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Sci-Fi / Fantasy Die gelöschte Welt

sonic_hedgehog

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Die Welt, wie wir sie kennen ist Geschichte – in einem 3.Weltkrieg haben alle Seiten Waffen eingesetzt, die unser Vorstellungsvermögen sprengen. Waffen, die den Gegner nicht einfach vernichten, sondern ihn einfach aus der Welt löschen. Doch für die Beteiligten unerwartet zeigten diese Waffen Nebeneffekte…
Seither umgibt nur ein schmaler Streifen die Erde, in dem normales Leben noch möglich ist – die Jorgmund Pipeline, die einen Stoff absondert, der das Grauen der Bomben einschränkt.
Der Ich-Erzähler und seine Freunde sind Mitglieder einer ehemaligen Spezialeinheit, die sich ihr Leben als Schnelleingreiftruppe verdient. Aber als wäre das Leben nicht schon kompliziert genug, brennt eines Tages die als unzerstörbar geltende Pipeline und die „Haulage & Hazmat Emergency Civil Freebooting Company of Exmoor County“ wird beauftragt, den brand zu löschen. Auf dem Weg zum Einsatzort lässt der Erzähler sein leben Revue passieren, von seiner Kinderfreundschaft zu Gonzo Lubitsch, dessen Schatten er künftig sein würde, ihre gemeinsamen Jugenderlebnisse, die Mädchen, ihre Kampfsportlehrer, ihre Tage an der Universität, wo sie in kürzester Zeit Hippiebewegung, Existenzialismus und politische Agitation erlebten und schließlich in verschiedenen Spezialeinheiten in den Konflikt gezogen werden, der schließlich in der Vernichtung der Welt mündete.
Als sie schließlich die brennende Pipeline erreichen muss der Erzähler jedoch herausfinden, dass dieser Brand nicht sein größtes Problem sein wird – und dass die Ursache dafür in der Vergangenheit liegt…

Als 2007 bekannt wurde, dass der Debutroman des Sohns von John le Carré für angeblich 300.000 Pfund gekauft wurde, murmelte die Presse von Vetternwirtschaft. Nach Lesen des Romans änderte sich die Rezeption des Werkes aber merklich:

Nick Harkaways Roman ist ein Kaleidoskop der Kuriositäten: Das Leben des Erzählers kreist zwischen Extremen – auf praktisch jeder Seite finden sich neue Unglaublichkeiten. Zum Beispiel sein Unterricht in der Kampfkunst des Stummen Drachen und sein Lehrer, den er so beschreibt:
S.68 schrieb:
Wu Shenyang ist groß und dünn. Er sieht nicht wie ein Buddha aus, sondern eher wie eine Leiter im Morgenrock. Die Zeit hat ihn poliert, geschliffen und gestählt. Er ist beinahe achtzig und stärker als zwei Collegesportler zusammen, auch wenn er auf den rechten Bein etwas humpelt.
Die Kampfausbildung ist dabei eine Persiflage aller gängigen Kampfsportklischees und darin todernst – von nicht vorhandenen Geheimlehren bis hin zu den Ninjas, die den Meister (vielleicht – vielleicht war es aber auch nur ein Unfall) töten.
Auch das Unileben birgt alles, was man jemals damit verbunden hat:
S.121 schrieb:
Es ist ein stürmischer Oktoberabend, der Himmel zeigt jenes Blaugrau, das ein Künstler namens Payne so gern dargestellt hat. […] Es ist genau der richtige Abend, um ein junger Mann zu sein. An so einem Abend kann sich das Hemd vom Leib reißen, den Himmel anheulen und losrennen, die Feuchtigkeit auf der haut spüren und sich nicht um die Kälte kümmern. In einer solchen Nacht fließen Wein und Whisky in Strömen, ein Feuer tost, und nach einem wilden Tanz sinkt man in die Arme irgendeines Mädchens oder schließt Freundschaften, die ewig halten.
Leider nehme ich an einer Veranstaltung teil.
Harkaway baut eine Welt voller Details, erschafft in Schachtelsätzen von teils beeindruckender Länge Bilder in den Köpfen - um dann das Thema zu wechseln. Das macht den Roman nicht leichter zu lesen, fasziniert aber unglaublich. Nicht jeder Seitenhieb ist dabei gelungen, in der Summe jedoch überwiegen die gelungenen die misslungenen jedoch bei weitem. Seitenhiebe finden sich dabei auf jedes Feld unseres Lebens, auch (und für die Geschichte besonders von Bedeutung) auf moderne Kriege:
S.221 schrieb:
[Von früheren Kriegen] unterscheidet sich der moderne Krieg durch die Tatsache, dass alle Beteiligten vorgeblich äußerst unmotiviert sind. Wir werden gegeneinander geschleudert wie Kolonien schwer bewaffneter Pinguine auf Eisschollen. Jede Rede über das Thema, die ein Beteiligter hält, beginnt mit dem bedauern, dass man überhaupt an Krieg denken müsse. Ein Krieg sei doch weder legal noch nützlich. Er sei nicht notwendig oder angemessen. Man müsse ihn vermeiden. Direkt nach dieser stolzen Eröffnung folgen zahlreiche Windungen, Ausflüchte und viel rhetorisches Gekräusel, weil wir doch nicht wollen und auch nicht dürfen, aber doch eine Art äußerst gewalttätigen Frieden durchsetzen müssen, bei dem leider ein paar Leute sterben werden. Also führen wir einen Nicht-Krieg.
Ohne Worte!
Einen Nicht-Krieg, der unvermeidbar in den Untergang führt. Harkaways Roman macht Spaß, die immer wiederkehrende Truppe von Pantomimen, tödliche Kampfsportler und Kämpfe auf leben und Tod, die immer mit dem nötigen Unernst ausgetragen werden. Dabei nähert sich der Roman seinen Themen immer auf dem ungeradesten Weg, geradlinige Erzählstrukturen scheinen dem Autor geradezu zu widerstreben. Sich darauf einzulassen ist die Herausforderung, vor der der Leser steht – ein unglaublicher Überschwang an Erzählfreude, fast Hyperaktivität ist der Lohn. Hyperaktivität ist vielleicht die beste Beschreibung für Harkaways Stil – er kann sich schlicht nicht fokussieren. So entsteht ein Roman, der auf der dünnen Linie zwischen Meisterwerk und Wahnsinn balanciert, ein sprachgewaltiges Ungetüm – und nur der Geschmack jedes Einzelnen kann entscheiden, auf welche Seite das Buch fällt. Eine Leseprobe findet sich auf den Seiten des Piper-Verlags, dem ich hiermit herzlich für die Möglichkeit danke, das Buch zu rezensieren, ebenso wie bei Amazon.

„Die gelöschte Welt“ ist kein Roman, den man nebenher liest, aber einer, für das man sich, wenn es einen gepackt hat, gerne Zeit nimmt. Um mit Harald Schmidt zu sprechen: „Kaufbefehl!“
 
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