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Sci-Fi / Fantasy Die Räder der Welt

feuervogt

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Jay Lake – die Räder der Welt.


Stellen Sie sich vor: Unser Sonnensystem ist ein einziges großes Uhrwerk. Die Erdkugel besitzt einen kilometerhohen metallenen Zahnkranz, der den ganzen Äquator umspannt, und dreht sich auf einer Schiene um die Sonne. Doch nun läuft die Uhr ab. In dieser Welt herrscht Kaiserin Victoria über die britischen Provinzen in Neuengland. Die Royal Navy durchstreift die Lüfte mit ihren lenkbaren Luftschiffen. Und in der Stadt New Haven erhält der junge Uhrmacherlehrling Hethor von dem Messing-Engel Gabriel den Auftrag, den Hauptschlüssel zu finden, mit dem sich das Uhrwerk der Erde wieder aufziehen lässt. Wenn er versagt, wird die Welt aufhören, sich zu drehen und alles Leben enden.
Wir werden direkt mitten ins Geschehen geworfen, die Erde erzittert und in der kleinen dunklen Kammer auf dem Dachboden in Meister Bodeans Werkstatt erleben wir mit Hethor die Ankunft des Messingengels. Wir stecken sofort in der Geschichte. Dabei ist es vorteilhaft, dass wir uns in New Haven, einer kleinen Stadt in Neuengland befinden, deren Erscheinungsbild wunderbar in die irdische Kolonialzeit passt. Überhaupt ist alles sehr nah am Original, sieht man von den typischen Steampunkelementen, wie beispielsweise dampfbetriebenen Luftschiffen ab.

So oder so ähnlich stellen wir uns das Leben eines armen Lehrlings vor, der aus seiner vertrauten Welt herausgerissen wurde und nun das größte Abenteuer seines jungen Lebens erlebt. Herausstechendes und über das gesamte Buch enthaltenes Merkmal ist jedoch die Religion und die damit verbundene Schöpfungsgeschichte. Gott hat die Welt in seiner unendlichen Weisheit geordnet und in das Uhrwerk des Universums integriert.

Vater unser, der Du bist im Himmel,
Handwerker sei Dein Name,
Dein Reich komme,
Dein Plan geschehe
Wie im Himmel, so auf Erden.
Vergib uns diesen Tag der Abweichung,
Wie auch wir vergeben unseren Abweichlern.
Führe uns nicht in die Unvollkommenheit,
Sondern erlöse uns vom Chaos.
Denn Dein ist die Antriebskraft und die Präzision
In Ewigkeit, Amen.

Manch einem könnte die Religionsthematik im Laufe der Geschichte zu viel werden, doch glaube ich nicht, dass Jay Lake hier versucht, zu missionieren oder uns Lesern den Glauben (woran auch immer) nahezubringen. Letztlich ist es nur konsequent, aus der Sicht des jungen Uhrmacherlehrlings, der außer der Lateinschule und der Werkstatt zu Anfang des Buches keinerlei Lebenserfahrung mitbringt, die leibhaftige Erscheinung des Messingengels Gabriel als Zeichen Gottes zu werten und so extrem gottesfürchtig zu handeln, zumal auf seiner Reise mehr als einmal göttliche Kräfte am Werk zu sein scheinen.

Nachdem wir also mit Hethor den Besuch des Engels erleben, begleiten wir den jungen Mann auf seinem Weg und erleben seine Zweifel, seine unbedingte Aufrichtigkeit und die Naivität, mit der er immer wieder Situationen heraufbeschwört, die ihn strengen Prüfungen unterziehen. Hethor ist kein Held im klassischen Sinne, er ist nicht stark, hat kaum Selbstbewusstsein und wird im Lauf der Geschichte, geschlagen, eingekerkert, ausgepeitscht und von abscheulichen Wesen entführt, ohne dass er auch nur eine Chance hat, sich dagegen zu wehren. Aber seine Beharrlichkeit wird immer wieder belohnt und die scheinbar schlechten Ereignisse führen letztlich doch immer zum Guten. Leider versäumt er es dabei, tatsächlich zum Helden zu werden, denn so ausgeprägt, wie wir Hethors Reise verfolgen, so wenig ist er aktiv daran beteiligt. Ähnlich wie Jack Sparrow, irrt Hethor ziellos aber mit einer festen Bestimmung vor Augen umher und stolpert eher zufällig in die richtige Richtung.

So führt uns unser Weg im Laufe des Buches über die Nordhalbkugel bis hin zur Äquatorialmauer. So wie die Mauer die Welt in zwei völlig ungleiche Hälften teilt, so überqueren wir sie mit Hethor nach etwa der Hälfte des Buches. Ist die Nordhalbkugel noch geordnet und können wir uns mit dem Leben dort halbwegs identifizieren, ändert sich das Leben auf der Südhalbkugel schlagartig. Dort begegnen uns Fabelwesen und eine unerforschte Landschaft. Wo die nördliche Hälfte eindeutig rational und geordnet abläuft, ist der Süden das genaue Gegenteil, chaotisch und voller Magie. Genau wie die Welt um ihn herum, verändert sich auch unser junger Protagonist. Ganz im Sinne seiner Aufgabe bekommt er nach und nach neue Fähigkeiten, bis er zum Schluß erkennt, das eigentlich alles wie ein Uhrwerk funktioniert und man nur die richtigen Rädchen drehen muss. Selbst das Leben funktioniert wie ein Uhrwerk.

Ob Hethor den Eingang zur Welt im ewigen Eis und den Schlüssel der Bedrohung tatsächlich findet, um die Räder der Welt wieder zum Laufen zu bringen, soll an dieser Stelle nicht verraten werden. Wer das erfahren will, soll sich selbst auf die spannende und unvorhergesehene Reise machen.

Leider verpasst Jay Lake in der zweiten Hälfte des Buches ein wenig den Faden und das ein oder andere Mal fragen wir uns nach dem Sinn. Dafür, dass Hethors Welt so logisch aufgebaut ist, dass man buchstäblich die Uhr danach stellen kann, passieren leider vor allem in der zweiten Hälfte zu viele Dinge, die unnötig scheinen oder nur Mittel zum Zweck sind, ohne wirklich in die Geschichte zu gehören. So ist der Schlüssel eines von sieben Reliquien, von denen keines je auftaucht. Himmelswesen entführen Hethor und bringen ihn auf den Wall der Welt, ohne dass erklärt wird, weshalb sie dies tun. Zweimal verliert Hethor die goldene Tafel, mit der er ohnehin nichts anfangen kann, nur um sie genauso unvermittelt wiederzufinden. Ist Hethor am Anfang noch ein naiver Bengel, der mehr schlecht als Recht durch die Welt stolpert, wird er ohne wirkliches Zutun und nicht immer nachvollziehbar zum Heiland mit fantastischen Fähigkeiten. Es hat den Anschein, als würde in die Räder der Welt der Grundstein für eine große Geschichte gelegt, deren Kapitel erst noch geschrieben werden müssen. So ist der Folgeband „Die Räder des Lebens“ bereits in Planung.

Obwohl außer Hethor kaum eine Person ausführlicher beschrieben ist, wirken alle Beteiligten sehr authentisch. Personen, wie Mr. Phelps oder die Bibliothekarin Childress sind trotz der knapp bemessenen Zeilen so präsent, dass wir keinen Augenblick das Gefühl haben, sie nicht zu kennen.
Jay Lakes Buch verfolgt einen sehr interessanten und so noch nicht dagewesenen Ansatz mit seinem mechanischen Universum. Wer sich nicht an der offensichtlichen Religiösität stört, bekommt ein durchaus lesenswertes Buch und eine Welt präsentiert, in die man gerne eintaucht. Insgesamt ist der Schreibstil sehr flüssig und passt zur Geschichte. Detailgetreu werden auch kleinere Schauplätze interessant beschrieben und Kleinigkeiten, wie „electrische“ Gegenstände erhöhen die Stimmung und schaffen so eine schöne Verbindung in die Welt des gemäßigten Steampunks. Jay Lake hat sich bei der Schaffung dieser vollkommen neuen Welt Mühe gegeben und nicht enttäuscht. Leider sind beim Rezensionsexemplar scheinbar zwei Seiten durchs Lektorat geschummelt worden, was kurz auffällt und für Irritationen sorgt, in späteren Auflagen aber sicher behoben ist.
Leichte Abzüge in der B-Note gibt es für die südliche Halbkugel, also die zweite Hälfte des Buches, was der Geschichte insgesamt aber keinen bleibenden Schaden zufügt. Lesenswert ist die Erzählung auf alle Fälle und nicht eine Seite ist verschwendet.

Mit 12,99€ gehört das Buch mit seinen 363 Seiten nicht zu den günstigsten, ist den Preis aber, nicht zuletzt wegen des Einbandes, wert. 100 Seiten mehr wären für die Geschichte und für das Portemonnaie dennoch schön gewesen.

Das Cover ist aufwendig gestaltet, auf der Frontseite geprägt und macht einen sehr hochwertigen Eindruck. Das Coverbild zeigt ein Luftschiff in einer surrealen Welt, das von einem Rahmen aus Zahnrädern umgeben ist, der sich über den Buchrücken bis auf die Rückseite zieht. Dieses Taschenbuch hat seinen Platz definitiv an einer sichtbaren Stelle im Regal verdient!

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Joseph E. Lake, jun. wurde am 6. Juni 1964 geboren. Der in Portland, Oregon lebende Autor hat bereits unzählige Geschichten und Bücher geschrieben und fühlt sich vor allem in der Science Fiction zuhause, wo er bereits mehrere eigene Universen erschaffen hat. Die Rollenspielgemeinde kennt ihn zum Beispiel aus dem Geschichtenband „Untold Adventures“, der in der Welt von Dungeons & Dragons angesiedelt ist, wo Jay Lake die Geschichte „The Decaying Mansions of Memory“ beisteuerte.

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Wir danken dem Bastei Lübbe Verlag, der die Rezension durch die freundliche Überlassung dieses Taschenbuches ermöglicht hat.
 
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