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Brian W. Aldiss, geboren am 18. August 1925 East Dereham in England, ist einer der großen alten Männer der Science Fiction Literatur. Nicht alle seine Romane erhielten die Beachtung, die sie verdient hätten und einige werden als schwer lesbar angesehen, insgesamt jedoch ist sein Werk mit Hugo Awards, Nebula Award, Kurd-Laßwitz-Preis und anderen Preisen zu Recht hoch dekoriert. Er selbst wurde aufgrund seiner Beiträge zur britischen Literatur in den Order of the British Empire aufgenommen und mit der Ehrendoktorwürde der Universität Liverpool ausgezeichnet.
Nun aber ist er ganz offensichtlich wütend – wütend über das, was als Krieg gegen den Terror begonnen hat, die westliche Welt zutiefst zu verändern. Das war ihm wohl Motivation für seinen jüngsten Roman HARM, zu Deutsch Terror, erschienen in der Edition Phantasia.

Paul Fadhil Abbas Ali ist ein in London lebender muslimischer Einwanderer zweiter Generation. Sein Vater war als junger Mann aus Uganda gekommen, er ist verheiratet mit einer Irin und nach allem, was der Leser erfahren kann, vorbildlich integriert. Als er jedoch ein seinem Buch „Der Rattenfänger von Hament“ zwei Protagonisten in betrunkener Stimmung philosophieren lässt, wie man das Leben verbessern könne und den beiden die Idee kommt, den Premierminister zu töten, erfährt er die Grenzen der westlichen Toleranz in diesen Jahren.
Es gab einmal eine sorglose Zeit, als man noch Dummheiten machen durfte, aber diese Zeit war vorbei, Dies war die Zeit der Ernsthaftigkeit, des Kriegs gegen den Terror. Die Sicherheit der Nation stand auf dem Spiel.

Gewisse Freiheiten mussten eingeschränkt werde – wie Dummheit und Satire und Meinungsfreiheit. Sie gehörten einer vergangenen Ära an.
Paul wird von HARM, dem Hostile Activities Research Ministry festgenommen und verhört – in einer Weise verhört, wie man sie nur den schlimmsten Berichten aus Abu Ghraib oder Guantanamo entnehmen kann. An dem Gefangenen B. entladen sich alle Vorurteile und kaum verdeckter Rassismus. Pauls Geist findet nur einen Ausweg, er flüchtet sich in seine Schizophrenie und auf den Planeten Stygia:

Dort ist er Fremant (genannt Free – die offensichtlichste Anspielung, aber bei weitem nicht die einzige), ein Leibwächter Astaroths, des Herrschers der menschlichen Kolonie, die den Planeten besiedelt. Eine Kolonie, deren Bewohner von den westlichen Regierungen dort angesiedelt wurden und die Grenzlinien, die sich auf der Erde entwickelt hatten, überwinden sollten. Um die Lichtjahre umfassende Reise zu überstehen, wurden ihre Geister im Schiffscomputer gespeichert und erst bei Erreichen des Planeten unter Verlust all ihrer Beziehungen rekonstituiert – wieder zusammengefügt und in neu erschaffene Körper heruntergeladen.

Doch Stygia ist kein Utopia, wie man angesichts Pauls Situation erwarten könnte, sondern eine tief zerrüttete Gesellschaft. Entpersonifizierte Siedler trafen beim Eintreffen auf dem Planeten unerwartet auf die insektoiden Ureinwohner des Planeten. Diese sogenannten Hundefroinder wurden sofort als Bedrohung erkannt und es begann ein gnadenloser Genozid. Und der Verlust der Erinnerungen und der persönlichen Bindungen führte auch dazu, dass kleinste Reste potentiell identitätsstiftenden Wissens die Herrscher dieser Gesellschaft prägen, deren ungebremster religiöser, wissenschaftlicher oder sonstiger Furor neue Gräben aufreist.

Die beiden Welten, Erde und Stygia verschmelzen im Geist Pauls/Fremants und stellen letztlich die große Frage, was Realität und was Fiktion ist…


Aldiss gelingt mit diesen zwei Handlungssträngen ein kleines Kunstwerk. Oft ist es so, dass bei zwei parallelen Handlungssträngen einer den Roman dominiert, insbesondere wenn einer von beiden die Gefangenschaft und Folter des Protagonisten schildert und damit stationär ist, während der andere beispielsweise eine Expedition beschreibt. Nicht so hier: Die beiden Handlungsstränge sind, obwohl örtlich und räumlich getrennt, fest miteinander verwoben und wechseln sich nicht nur gleichberechtigt ab sondern komplettieren sich gegenseitig:
Auf der einen Seite die kafkaeske Gefangenschaft Pauls, auf der anderen Seite die Bewohner Stygias, deren Identitäten durch die Rekonstitution vernichtet wurden.

Pauls Teil der Geschichte ist dabei für den Leser schwerer zu verdauen: Wie soll ein Unschuldiger seine Unschuld beweisen, wenn alle an seine Schuld glauben wollen? Nicht umsonst gilt in einem Rechtsstaat die Unschuldsvermutung, nach derer man unschuldig ist, bis die Schuld bewiesen ist. In die Mühlen eines entfesselten Staates geraten, ist Paul hilflos ausgeliefert und selbst wenn sich andeutet, dass auch die Handlanger des Ministeriums von seiner Schuld nicht überzeugt sind, so findet sich dennoch kein Ausweg. Doch der Druck, der durch Folter und Isolation erzeugt wird, hat durchaus Einfluss auf Pauls Selbstwahrnehmung – ist er wirklich unschuldig, oder liegt die Schuld tiefer in seinem Unterbewusstsein vergraben, so tief dann nur die Folter sie ans Licht bringen kann? Sollte er seinen Peinigern dankbar sein, dass sie ihm helfen seine wahre Motivation zu erkennen oder sollte er sie für ihre Unmenschlichkeit verabscheuen? Bricht er oder findet sich doch noch ein Ausweg? Und natürlich hängt die unausgesprochene Frage über allem, ob die Schuld Pauls die Wahrnehmung Situation ändern würde und dürfte.

Stygia hingegen ist eine mehr oder weniger verschlüsselte Parabel auf unsere Realität, in der aus Identitätsverlust und Unwissenheit und daraus resultierendem Radikalismus eine gefährliche Melange entsteht. Ein unfreundlicher Planet, dessen fremde Bewohner uralte instinktive Ängste hervorrufen, denen die ungefestigten, ihrer kulturellen Identität beraubten Menschen nichts entgegenzusetzen haben. Menschen, die von der im Kampf der Kulturen aufgeriebenen Erde stammen, auf der freiheitliche Demokratien ihre Grundwerte verrieten und so den Terroristen in die Hände spielten. Menschen die sich anschicken, die alten Fehler aufs Neue zu begehen. Und Menschen deren Beziehungen untereinander ebenfalls tief gestört scheinen.

Aldiss Roman fesselt den Leser und ängstigt ihn – wo Orwells 1984 in den fünfziger Jahren zwar den bereits vertrauten Totalitarismus thematisierte, den Roman jedoch in eine als fern empfindbare Zukunft setzte (was dazu führt, dass wir heute viel erschreckend Vertrautes in dem Roman entdecken), entfernt sich Aldiss für seine Dystopie kaum von der Realität. Vieles, was seinen Roman erschreckend macht, sind nur konsequent zu Ende gedachte Vorschläge der Realpolitik – Vorschläge von denen man nicht sicher ist, ob sie nicht schon umgesetzt worden sind. Die Willkürherrschaft eines Überwachungsstaates, in dem der Götze der Sicherheit über allem thront, scheint dem Leser so fern nicht und die Vorurteile, die gegen Paul in Stellung gebracht werden, sind nur allzu vertraut. Terror ist hochaktueller Roman, der den Leser nicht nur unterhalten, sondern auch zum Nachdenken anregen will. Er ist daher beileibe keine leichte Sommerlektüre – aber dennoch ein Buch, dem man nicht genug Leser wünschen kann. Ein Roman, der den Vergleich mit Orwell, Kafka und Bradbury sucht und diesen nicht zu scheuen braucht.

Ein Buch, dessen Besprechung am Besten wie jüngst ein Zeit-Artikel zum Thema innere Sicherheit enden sollte – mit Karl Popper: „Wir müssen für Frieden sorgen und nicht für die Sicherheit, einzig aus dem Grund, weil nur der Frieden Sicherheit sicher machen kann.“

Ich danke der Edition Phantasia, die diese Rezension ermöglichte. Auf den Seiten des Verlags findet sich auch eine Leseprobe (links unten - pdf).
 
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