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Sci-Fi / Fantasy Diktator

sonic_hedgehog

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Stephen Baxters große Stärke sind seine Geschichten, die in sich geschlossen und spannend sind und oft für sich selbst stehen, so sehr für sich selbst, dass wissenschaftliche Details und Charakterzeichnungen von ihm in die zweite Reihe gestellt werden. Auch die wissenschaftlichen Grundlagen des vorliegenden Buches sind eher dünn, dafür zeigt sich aber die Charakterschwäche weniger deutlich als in anderen Werken:

Benjamin Kamen ist österreichischer Jude, der angesichts der Machtübernahme der Nazis in Österreich in die USA geflohen ist und dort, als begabter Physiker, gemeinsam mit Gödel an einer dessen Theorien arbeitet – einer Methode ohne Verletzung der Relativitätstheorie die Grenzen der Zeit zu durchbrechen. Die Theorie besagt, dass Menschen während ihrer Träume durch die Zeit reisen können, dass aber nur besonders begabte Menschen in der Lage sind, mit gleichsam empfänglichen Menschen in der Vergangenheit zu kommunizieren und so Botschaften zu übermitteln – besonders begabten Menschen wie Benjamin selbst.
Leider interessieren sich insbesondere Parteien für diese Forschungen, in deren Händen sie ein fatales Potential entfalten könnte, eine Spezialabteilung der SS unter der Führung des deutschen Standartenführers Josef Trojan und der englischen Unterscharführerin Julia Fiveash. Benjamin sieht sich gezwungen zu fliehen und findet Unterschlupf in Großbritannien, wo er leider mitten in die Wirren der Operation Seelöwe gerät, der Eroberung der Insel durch die Wehrmacht. Und so beginnt eine gnadenlose Jagd auf Benjamin, denn mit seiner Hilfe will die SS versuchen, die Vergangenheit dahingehend zu ändern, dass die Welt auf eine Herrschaft ihrer Ideologie vorbereitet ist. Und in der Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit finden Geschichtsforscher Hinweise, dass dieser Plan erfolgreich sein könnte.
Parallel dazu erzählt Baxter sehr persönliche Geschichten, die Geschichte des Wehrmachtssoldaten Erich Trojan, der im besetzten Englang bei einer englischen Familie lebt, die Geschichte Gary Woolers, eines Amerikaners der in deutsche Gefangenschaft gerät und weitere Geschichten von Leben, die durch den Krieg, aber auch durch die großen Pläne im Hintergrund aus den Fugen geraten.

Baxters Roman ist wieder einmal fesselnd – allein die Idee: Was wäre, wenn man durch Träume Einfluss auf Personen der Vergangenheit nehmen kann, ihnen Nachrichten übermitteln, sie warnen kann? Was wenn, wie es dem Buch zugrunde liegt, John William Dunnes Theorien wahr sind und die Zeit nicht linear verläuft, sondern eine Art Landschaft ist, die man in Träumen erforschen kann. Wenn diese Tatsache präkognitive Träume erklären kann. Und was, wenn diese Technik den größten Monstern der Menschheitsgeschichte in die Hände zu fallen scheint? All diese Ideen verwendet Baxter um inmitten der in unserer Realität niemals wahr gewordenen Invasion Großbritanniens durch die Wehrmacht eine packende Geschichte zu erzählen. Und uns mit der Frage zu konfrontieren, wie es zu dieser parallelen Realität kommen konnte…

Und nicht nur die Geschichte ist spannend, auch die Charaktere sind in diesem Roman fesselnder als in anderen Romanen des Autors. Benjamin Kamen als eigentlich im Zentrum stehende Figur bliebt zwar völlig blass, dies wird jedoch durch andere, eher „supporting roles“ ausgeglichen. Nicht dass diese wirklich dreidimensional wären, sie heben sich aber von den eindimensionalen Charakteren früherer Romane ab, auch wenn mitunter der Eindruck verbleibt, dass jeder Charakter seine rolle zu erfüllen hat und Entwicklungen nicht stattfinden. Auch weiß nicht jede der Figuren dabei gleichermaßen zu überzeugen, so bleibt bis zum Ende rätselhaft, warum Constabler George Tanner mit Julia Fiveash eine mehr als flüchtige Beziehung eingeht, obwohl sie sich ihm wie folgt darstellt:
S.209 schrieb:
Und sie trat näher auf ihn zu, durchbrach eine unsichtbare Abstanzgrenze. Die polierten Knöpfe ihrer Uniform streiften seine Brust, und er roch ihren frischen Atem und einen Duft wie von Äpfeln um ihre Haare. Fast hätte er zu zittern begonnen. Er war zwanzig Jahre älter als sie; er hätte ihr Vater sein können; sie war der Inbegriff all dessen, was er verabscheute, bei den Engländern ebenso wie bei den Deutschen. Aber bei Gott, sie erzeugte eine Hitze in seinen Lenden, die er seit langem nicht mehr verspürt hatte.
Aber wahrscheinlich soll dieses Rätsel nur ein weiteres Bild für die Wirren des Krieges sein.

Einzig sein Erzählstil mag mir immer noch nicht zu gefallen. Regelmäßig verlässt Baxter die Handlungsebene um durch den Erzähler Informationen zu liefern, die auch durch die Worte der Protagonisten geliefert werden könnten.
S.96 schrieb:
“Und was machen Sie hier in England?“
„[…]und arbeite jetzt als Stringer für ein Blatt in Boston.“
„Als was?“
“Als Korrespondentin. Aber hier in Colchester bin ich eigentlich, um ein paar historische Nachforschungen anzustellen. Ich gehe einem Dokument nach, das mir jemand gegeben hat.“ Es war Ben Kamen gewesen, der jung österreichische Jude, der sich mit Gary angefreundet hatte. „Es geht um Kaiser Claudius. […]“
Eine Information, die dem Leser schon bekannt ist und der Gesprächspartnerin Marys in diesem Fall nicht bekannt werden wird (in anderen Fällen ist das anders, da werden diese Einschübe in der Folge wie gesprochenes Wort behandelt, fassen also Gespräche zusammen). Dies unterbricht den Erzählfluss und versetzt den Leser aus der Rolle des Zuhörers wieder in die Rolle des entfernten Betrachters, was einfach einen störenden Eindruck hinterlässt.

Insgesamt jedoch ist Diktator ein angenehm zu lesendes Buch. Zwar führt es als vierter und letzter Teil der Reihe „Die Zeit-Verschwörung“ alte Handlungsstränge zu ihrem Ende, steht jedoch für sich allein und ist in sich geschlossen. Nicht alle Andeutungen wird man ohne Kenntnis der Vorgänger sofort verstehen, weswegen es nicht schaden kann, die ersten Teile bereits gelesen zu haben, es ist aber auch ohne Kenntnis der Vorgänger zu verstehen.
Als interessanter Abschluss einer Reihe weckt es dann durchaus Interesse, die Vorgänger auch noch anzupacken.

Nach allen Erfahrungen, die ich bisher mit Baxter machen durfte, ist dies einer seiner runderen Romane, dessen Handlung sich über nur 3 Jahre erstreckt und der neben der handlung auch die Charaktere nicht vergisst. Ein Meister der Charakterzeichnung wird Baxter wohl nie werden, seine phantasievollen Erzählungen sind aber, so man das verzeihen kann, mehr als nur einen kurzen Blick wert!

Herzlichen Dank an den Heyne Verlag, der diese Rezension ermöglichte.
 
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