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Sci-Fi / Fantasy Die Stadt und die Stadt

sonic_hedgehog

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In China Miévilles Roman „Die Stadt & die Stadt“ steht der Ich-Erzähler Inspektor Borlú aus Beszél vor einem Problem: Mitten in seiner Stadt wird eine junge Frau tot aufgefunden. Das Problem? Die junge Frau dürfte nicht in Beszél sein, denn sie lebte in Ul Qoma. Beszél und Ul Qoma sind geteilt, ähnlich wie Ostberlin und Westberlin, ähnlich wie Jerusalem und doch völlig anders. Wo diese Städte physisch durch Mauern getrennt waren/sind, sind Beszél und Ul Qoma ineinander verzahnt. Die Trennung erfolgt auf der Ebene der Bewohner, die seit frühester Kindheit trainiert sind, die jeweils andere Stadt und deren Bewohner zu nichtsehen, nicht zu beachten. So kann es sein, dass ein Bewohner Beszéls sein Nachbarhaus nicht sieht, da es in Ul Qoma steht. Um es zu besuchen, müsste einmal durch die Stadt zum offiziellen Grenzübergang fahren, dort die Ausreise vornehmen um dann, als Tourist in Ul Qoma, eventuell sogar auf den gleichen Straßen, zurückzufahren und in Ul Qoma das Haus neben seiner Wohnung zu betreten – und sein eigenes zu nichtsehen.

Ein gewagtes Konstrukt, das dem Leser einiges abverlangt. Die Vorstellung, zweier Städte, die sich Straßen, teils sogar Häuser teilen, deren Bewohner aber auf ihrer Trennung bestehen, sich nichtsehen und dennoch einander auf den Straßen ausweichen müssen, ist vollkommen abstrus. Und dennoch – sich auf diesen Gedanken einzulassen ist die Grundvoraussetzung für den Roman.

Das schlimmste Verbrechen in den beiden Städten ist Grenzbruch – von der einen Stadt in die andere zu gehen, ohne die offiziellen Grenzübergänge zu nutzen. Kontrolliert wird dieses Verbot von einer mysteriösen Organisation, der sogenannten Ahndung. Sie allein haben die Befugnis, grenzüberschreitende Verbrechen aufzuklären – und dabei sind ihnen keine Beschränkungen auferlegt. Doch ist es schon Grenzbruch, wenn die Leiche einer amerikanischen Gaststudentin aus Ul Qoma in Beszél aufgefunden wird? Und wie soll Borlú ermitteln, bis der Grenzbruch als Teil der Ermordung erwiesen ist?

Befreite man die Geschichte von der Eigenheit der beiden Städte, so wäre „Die Stadt & die Stadt“ ein durchschnittlicher Krminalroman: Ein Inspektor findet kurz hinter der Grenze eine ermordete Ausländerin und muss mit den ausländischen Behörden zusammenarbeiten um den Mord aufzuklären. Dabei kommt er einer Verschwörung auf die Spur, in die verschiedene Mächtegruppen involviert scheinen und bei der vorerst jede Erkenntnis neue Rätsel aufzugeben scheint.

Aber so einfach ist es eben nicht – denn es scheint, als habe die Studentin im Geheimen nicht nur an der Historie der beiden Städte geforscht zu haben, sondern als sei sie einem Geheimnis auf der Spur gewesen – dem Geheimnis einer dritten Stadt, die unerkannt zwischen Beszél und Ul Qoma liegt und deren Machthaber die Trennung der Städte befördern, die von dieser Trennung profitieren und sie kontrollieren. Einer dritten Stadt, die sogar Ahndung überlegen scheint. Doch wieviel wahres steckt hinter der Legende der dritten Stadt? Und wie soll man dies aufklären, wenn doch schon der Blick in die jeweilige Nachbarstadt streng verboten ist?

Miéville spinnt ein komplexes Verwirrspiel und für Borlú einen Tanz auf dem Drahtseil. Hat man es geschafft, sich auf die Grundidee des Romans einzulassen (was für Fantasy- und Science Fiction-Freunde, die ja ohne Probleme Magie und überlichtschnelle Raumschiffe akzeptieren können kein großes Problem sein sollte), wird man dafür mit einer kreativen Geschichte belohnt, die den Leser nach kurzer Zeit in seinen Bann zieht. Eine Geschichte, die tiefer geht als es im ersten Moment scheint. Seine Bezüge auf Berlin und Jerusalem leugnet Miéville nicht, er verbaut sie explizit im Roman, wenn beispielsweise Inspektor Borlú vom Besuch eines Kongresses über die Polizeiarbeit in geteilten Städten erzählt, wo er interessante Erfahrungen im Austausch mit Kollegen aus eben diesen Städten gemacht hat. Auch kann man einige Teile des Romans auch durchaus als Parabel auf das Leben in modernen Großstädten betrachten – wo die Bürgern beispielsweise die allgegenwärtige Armut am Straßenrand nichtsehen. Die Ermordung beispielsweise eines Obdachlosen oder eines illegalen Einwanderers dürfte ähnliche Probleme mit sich bringen, wenn die Tat ebenso (un)bewusst übersehen wird wie hier der Mord an der Studentin…

All dies dürfte neben der faszinierenden Geschichte wohl mit in das Urteil der Fachjurys eingegangen sein, die den Roman des britischen Autors im Jahr 2009 sowohl mit dem Locus-Award, als auch mit dem Hugo-Award bedachten. Ich persönlich empfand, nach der zu so viel Nachdenken anregenden und so verrückten Geschichte das Ende als etwas konventionell, als etwas zwiespältig: Zwar ist die letztliche Aufklärung des Mordes so überraschend wie passend – das weitere Geschehen allerdings fast schon vorhersehbar. Trotzdem – China Miévilles Roman hat alles Gute, das man über ihn sagen kann, vollkommen verdient – und sollte als Empfehlung auf der Bücherliste all jener landen, die gerne gewohnte Pfade verlassen und bereit sind, sich auf nicht einfache und ungewöhnliche Geschichten einzulassen.

Ausdrücklich lobenswert scheint mir an dieser Stelle auch die Arbeit der Übersetzerin, Eva Bauche-Eppers, die mit diesem Roman sicherlich ihre liebe Mühe gehabt hat. Das Ergebnis darf allerdings auch ohne Kenntnis des Originals als rund und gelungen angesehen werden. Wer neugierig geworden ist, kann sich einen ersten Eindruck des Romans auf der Seite des Verlags Bastei Lübbe verschaffen, dem ich hiermit auch für die Möglichkeit zur Rezension dieses Romans danken möchte.
 
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