• RPG-Foren.com

    DIE Plattform für Fantasy & Sci-Fi Rollenspiele

    Ihr findet bei uns jede Menge Infos, Hintergründe zu diesen Themen! Dazu Forenrollenspiele, Tavernenspiele, eigene Regelwerke, Smalltalk und vieles mehr zu bekannten und weniger bekannten RPG-Systemen.

Sci-Fi / Fantasy Die Stadt am Ende der Zeit

Tufir

Drachling
Beiträge
17.531
Punkte
358
Alter
63
Greg Bear – Die Stadt am Ende der Zeit

„Träumen Sie von einer Stadt am Ende der Zeit?“ – Diese mysteriöse Frage findet man eines Tages in Kleinanzeigen in lokalen Magazinen der Stadt Seattle. Niemand kann mit dieser kryptischen Frage etwas anfangen. Fast niemand. Denn es gibt drei Menschen, deren Geist auf eine unerklärliche Weise mit Ereignissen verbunden ist, die in ferner Zukunft stattfinden. In einer Stadt in die sich die letzten Bewohner eines sterbenden Universums geflüchtet haben. Und während diese zeitfernen Ereignisse beginnen, ihren Einfluss auch auf die Vergangenheit auszudehnen, begeben sich Ginny, Jack und Daniel auf eine infinitesimale Reise zum Anfang und Ende allen Seins.

Greg Bear, geboren 1951 in San Diego, Kalifornien, studierte dort englische Literatur. Seit 1975 ist er als freier Schriftsteller tätig und gilt heute als einer der ideenreichsten, wissenschaftlich orientierten Autoren der Gegenwart. Etliche seiner Romane wurden zu Bestsellern. Er ist der Schwiegersohn von Poul Anderson.

Mit dem vorliegenden Roman entfernt sich Bear von seinen früheren, zumeist Fakten orientierten, Science-Fiction Romanen und begibt sich auf das Feld der mathematischen Theorien und paart diese mit einem guten Schuss Mystik und Religiosität. „Die Stadt am Ende der Zeit“ ist genial und verwirrend zugleich und beschreibt damit selbst ziemlich genau das, was der Roman darstellt. Eine Beschreibung des Inhalts kann eigentlich nur durch das Buch selbst geliefert werden. Der Autor greift dabei tief in die Trickkiste aller Wortzauberer und stellt die Frage, ob ein Multiversum an sich von den Erinnerungen an sich selbst abhängig ist. Er mischt dabei mathematische Axiome mit hinduistischer Religionsphilosophie und griechischer Mythologie. Nicht vorstellbar? Korrekt! Bislang war dem so. Mit diesem Roman ändert sich dies jedoch. Bears literarischer Ansatz vermengt dabei sowohl die Genialität eines Isaac Asimov, die sprachliche Virtuosität eines Stanislaw Lem und den ideenreichen Mut eines John W. Campbell jr. Dass Bear dann in den letzten Kapiteln des Buches auch noch den Tempus wechselt, als er plötzlich und unerwartet von der Vergangenheitsform in den Präsens springt, bleibt nach kurzem verwirrendem Aufflackern bedeutungslos, angesichts eines Multiversums, dass gerade dabei ist, sich selbst auf Stecknadelkopfgröße zu verdichten.

Am Anfang des Buches ist Greg Bear der Autor, den man kennt. Mit einfachen aber geheimnisvollen Sätzen verführt er den Leser soweit, dass dieser nicht mehr loslassen will.

In fünfundsiebzig Jahren wird der Bibliothekar dich zu einem Gespräch empfangen. Ist das schnell genug?


Dazu muss man wissen, dass der Antragsteller zuerst eine vierstellige Jahreszahl genannt bekam. Dann kommen die Einführungen der einzelnen Protagonisten, die, wie von ihm gewohnt, hochspannend gehalten sind und keine der Hauptpersonen wird stiefmütterlich behandelt. Spätestens als dann die Rede von sich selbst ändernden Büchern aufkommt, beginnt auch für den Leser der Kampf mit der Realität.

“Wie können Bücher sich langweilen? Die sind doch nicht lebendig!“
„Ah!“


Die nächsten Selbstzweifel tauchen dann nach ungefähr einem Viertel des Buches auf, wenn der Leser den erwähnten Autor eines Buches über Kryptiden nachschlägt und feststellen muss, dass es diesen gar nicht gibt. Sich selbst ändernde Bücher? Kann es denn wahr sein? Als sich schließlich einhundert Seiten später die Frage nach einem Babel, einer Universalbibliothek, stellt, beginnt der Anfang des philosophischen Reigens, dessen Nachverfolgung nun mit jeder Seite schwieriger wird.

“Dem Wirkungsbereich eines vollendeten Babels sind keine Grenzen gesetzt. Alles existiert dort gleichzeitig: alle Möglichkeiten, jeder Unsinn, jede Vermessenheit, jede Niederlage. Ein vollendetes Babel wäre tatsächlich das Großartigste, was je erschaffen wurde. Und das Gefährlichste.“
Ghentun schoss plötzlich eine Frage durch den Kopf, obwohl – vielleicht auch weil – sie unmöglich zu beantworten war: Und was ist für ein Universum wichtiger – beliebiger Unsinn oder die Dinge, die wir unserer Meinung nach deuten und begreifen können?
„Davon habe ich keine Ahnung“, erklärte er mit gesenktem Blick, doch er war bis in Innerste erschrocken.


Selbst die Selbsterkenntnis einiger Protagonisten wird den Leser in noch weitere Verwirrung stürzen.

“Was sind Gestalter?“, fragte Nico.
„So ähnlich wie ich“, erwiderte Pahtun, „nur anders. Ich bin noch nie einem begegnet.“ Er ließ sich nicht weiter darüber aus.


Doch egal, wie schwer es dem Leser fallen mag, dem roten Faden zu folgen. Die Spannung endet nie:

“Die letzten Menschen auf Erden saßen allein in einem Zimmer“, sagte Miriam trocken. „Da klopfte es an die Tür.“


„Die Stadt am Ende der Zeit“ ist kein Buch für den Urlaub und auch kein Buch für den Whisky vor dem Kamin. Es ist mitnichten ein Buch, welches man in einem Rutsch lesen wird. Unterbrechungen sind Pflicht, um sich nicht selbst im Strudel verwirrender Träume und den theoretischen Möglichkeiten zur Schaffung einer Universalbibliothek zu verlieren. Das Werk zu lesen ist ein Kampf – ein Kampf, der ohne Siegesgefühl zu Ende geht, wenn man denn das Finale des Buches tatsächlich erreicht. Und doch bieten die Protagonisten eine Menge Ansatz zur Identifikation und die Frage, ob Ginny und Jack aus der Jetztzeit am Ende ihre Alter Egos der Zukunft, Thiadba und Jebrassy, treffen werden, hält den Leser über 99% des Textes am Ball.

Und dann ist das Werk im Prinzip auch noch eine Hommage an die Literatur selbst.


“Ich habe Bücher gesammelt, die Mnemosynes unvollendetes Werk widerspiegelten, vor allem vergessen Werke, vergraben in Bibliotheken und oft auch in Buchantiquariaten. Texte, die lange Jahre niemand mehr gelesen hatte. Wenn ein Buch von vielen Menschen gelesen wird, zählt es zu den Ersten, deren Konsistenz und Koheränz Mnemosyne wiederherstellt. In Bestsellern wird man nur wenige Ungereimtheiten entdecken!"


Nach vielen Meinungen, die während des Lesens einander abwechseln wie die Farben einer Lichtorgel, wird man am Ende das Buch doch als gutes, durchdachtes und lesenswertes Werk empfinden.

Viel Geduld beim Schmökern wünscht
Euer Tufir
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
Zurück
Oben Unten