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Sci-Fi / Fantasy Julian Comstock

sonic_hedgehog

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Eines der Themen der nächsten Jahrzehnte werden die Folgen des sogenannten „peak oil“ sein – der Moment, an dem das Erdölfördermaximum erreicht ist und dann der Nachfrage nicht mehr stand halten kann und die Folgen für die Weltwirtschaft.

In Robert Charles Wilsons aktuellen Roman „Julian Comstock“, der im Jahr 2172 beginnt, liegt dieser Zeitpunkt hinter der Menschheit – und die Welt hat dieses Ereignis nicht unbeschadet überstanden:
Ein rapide steigender Ölpreis lähmte die Weltwirtschaft. Gleichzeitig brachen Konflikte um Trinkwasser, fruchtbares Land und andere Ressourcen, die angesichts des Klimawandels knapp wurden, aus und führten zu einer massiven Landflucht. Die daraus resultierenden dramatischen hygienischen Umstände und Versorgungsengpässe bahnten Seuchen den Weg. In weltweiten Aufständen taumelte die Welt ihrem Untergang entgegen. Am Ende eines massiven Schrumpfens der Weltbevölkerung entstieg dann in Nordamerika wie Phoenix aus der Asche ein neues-altes Gesellschaftssystem dem Chaos: Eine Plutokratie.
Die Reichen zogen sich auf ausgedehnte und geschützte Landgüter zurück und schufen eine Klasse neuer Leibeigener, die in Ermangelung maschineller Unterstützung von Hand das Land bestellten. Gleichzeitig erstarkten die christlichen Kirchen Amerikas unter dem Banner des Domions, verdammten die Katastrophe als Strafe Gottes für das lasterhafte Leben der Menschen zu Zeiten der „Falschen Drangsal“ und stützten die Macht des neuen Adels. Mit einer Bevölkerung, die in Unwissenheit und Analphabetismus gehalten wird und einer Wirtschaft, die in Ermangelung von Öl und technisch hochentwickelten Maschinen wieder auf Dampf und Kohle gestützt ist, entwickelte sich eine Gesellschaftsform sehr ähnlich der des 19. Jahrhunderts.

In diese Welt wird der Ich-Erzähler Adam Hazzard in Williams Ford (Athabaska) geboren, der uns in dieser Biographie das Leben seines Freundes Julian Comstock schildert. Julian ist der Neffe des Präsidenten Deklan Comstock. Er wurde unter der Bewachung eines alten Freundes der Familie, des ehemaligen Soldaten Sam Godwin, in Adams Heimatdorf gebracht, um vor den Ränken seines Onkels geschützt zu sein. Dieser hatte schon Julians Vater in den Tod geschickt hatte, da er in ihm eine Bedrohung seiner Macht sah. Adam hingegen ist ein Sohn einfacher Pächter und ist, auch wenn er dank seiner Mutter Lesen und Schreiben gelernt hat, eher naiv. Zwischen den beiden Jungen entwickelt sich eine schicksalhafte Freundschaft, die bis zum Ende halten wird und schließlich in der Veröffentlichung dieser Biographie mündet.

Denn natürlich ist der Plan, Julian vor seinem Onkel zu verstecken, alles andere als perfekt. Seit Jahren tobt ein hartnäckig geführter Stellungskrieg der Amerikaner gegen die Deutschen, wie sie sämtliche Europäer nennen, die mit einer Invasionsarmee versuchen, nachdem die Amerikaner den Panamakanal in ihrer Hand haben, wenigstens die Nordpassage zu sichern. Doch ein Krieg erfordert Soldaten und so verwundert es wenig, dass eines Tages auch in Williams Ford Musterungstrupps auftauchen. Adam, Julian und Sam fliehen und geraten dadurch in ein Abenteuer, das sie schließlich doch mitten in den Krieg führt. Es beginnt Julians unaufhaltsamer Aufstieg, doch Macht korrumpiert…


Julian Comstock ist ein ungewöhnlicher SF-Roman. Fast 200 Jahre in der Zukunft angesiedelt verzichtet er auf alle typischen SF-Elemente und findet sich eher in der Tradition der Abenteuerliteratur im amerikanischen Bürgerkrieg. Nicht nur die Szenerie, in der die Geschichte angesiedelt ist, auch der Erzählstil erinnert an solche alten Romane. Dabei macht sich Wilson nicht zuletzt die ausgeprägte Naivität des Ich-Erzählers zunutze, der an der Seite Julians nicht nur die Wirklichkeit des Krieges, sondern auch die Ränke der High Society erleben muss. Gerade die sehr fromme Erziehung Adams bewirkt, dass man sich als Leser fast vor Schmerzen windet, wenn die eben vor Verfolgung gerettete hübsche junge Frau Adam sagt, sie wolle ihn auf die bestmögliche Weise belohnen, aber dies ginge im Moment (!) leider nicht und dieser erklärt, er würde nie versuchen, sie vom Pfad der Tugend abzubringen.
Adams ehrliche Naivität bildet dabei einen Gegenpol zur agnostischen Aufgeklärtheit Julians, der sich in der Position des verfolgten, aber mächtigen Adeligen (Eupatriden) an allem reibt, am Glauben, an der Dummheit, an der Macht.

Wilson erschafft in seinem (leider mitunter etwas langatmigen) Roman ein dichtes Bild einer Gesellschaft, die den Untergang überlebt und sich in die Vergangenheit geflüchtet hat. Dabei kann der Roman einige Schwächen nicht verhehlen: Der Aufbau folgt einem sehr klassischem Schema, die grobe Entwicklung der Geschichte ist vorhersehbar und auch kleinere Fehler in der Logik fallen dem Leser ins Auge. Doch die Fülle an Details, wie beispielsweise die beiläufige Erwähnung der Tatsache, dass unter den Eupatriden Impfnarben modisch sind, da nur die Oberschicht es sich leisten kann einen der teuren Impfläden zu besuchen (und sich dort entgegen der Erwartungen einer erhöhten Infektionsgefahr auszusetzen), gleichen dies mehr als aus. Der Roman bedient sich einer Reihe von Zitaten und Anspielungen auf klassische Werke, die aber (soweit sie nicht durch die Übersetzer Hendrick P. & Marianne Linckens aufgeklärt werden) so in die Geschichte eingebunden sind, dass sie nur Kennern auffallen werden. Zwar kann man geteilter Meinung sein, ob man dies als kunstfertig oder als angeberisch bezeichnet – es schadet dem Roman aber nicht. Doch über allem schwebt die Szenerie der von vielen Verwerfungen und Machtspielen geprägten Welt, bei der man sich gerade als Europäer doch fragt, ob sie so abwegig ist. Eine Welt, die den Leser zu faszinieren weiß.

Gerade aufgrund seiner Ungewöhnlichkeit ist Julian Comstock ein Empfehlung wert, in meinem Bücherregal wird er einen Platz unter den Büchern finden, die man auch ein zweites Mal lesen und dabei neue Details entdecken kann.

Robert Charles Wilson wurde 1953 in den Vereinigten Staaten geboren, wuchs aber in Kanada auf. Seine Bücher wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, inklusive des Hugo, des John W. Campbell Memorial und des Aurora Awards. Auch in den Literaturbeilagen verschiedener Tageszeitungen, beispielweise der New York Times oder der FAZ wurden seine Bücher positiv aufgenommen. Mit Julian Comstock wendet sich Wilson von der Tradition der Hard SF ab und wird daher nicht bei allen seiner Fans gut ankommen – ich persönlich halte es jedoch mit Cory Doctorow, der auf der Wilson Homepage wie folgt zitiert wird: "Politically astute, romantic, philosophical, compassionate, and often uproariously funny, Julian Comstock may be Wilson's best book yet."

Davon kann sich jeder auf der Hompage des Heyne Verlags, dem mein Dank für das Ermöglichen dieser Rezension gilt, in einer Leseprobe überzeugen.
 
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