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Abenteuer/Kampagne Spielbericht (Advanced) Dungeons & Dragons Von Feuer und Düsternis – Erzählungen aus Euborea

Sitzung 19 - Die Reise durch das Unterreich

Halbohr ließ den Kopf hängen und zog röchelnd die Luft ein. Seine Lunge schmerzte. Es gab zudem ein rasselndes Geräusch, das er aus dem Inneren hören konnte. Der ätzende Atem der Kreatur hatte ihm zugesetzt. Doch in seinem Fiebertraum, der ihm während seiner Ohnmacht widerfahren war, hatte er auch das Gefühl von Hoffnung verspürt. Als ob er den Geruch von Laub und Harz vernommen hätte. An mehr konnte er sich nicht erinnern. Er betrachtete das verätzte Fleisch seiner Hände und Arme. Die Haut war an einigen Stellen weiß geworden und begann bereits sich zu pellen. Er saß jetzt teilnahmslos dort und ein Gefühl der Verzweiflung machte sich in ihm breit. Wieder war es ein Kampf gewesen, der ihn fast das Leben gekostet hatte. Bevor er in Ohnmacht gefallen war, hatte er den Segen der seltsamen Chaosgöttin gespürt, ohne deren Beistand er vielleicht nicht mehr am Leben wäre. Konnte er wirklich den vertraglich zugesicherten Schutz leisten? Der Jüngling hatte ihm bereits mehrere Male das Leben gerettet. Als ob Neire seine Gedanken erlesen könne, hörte er plötzlich dessen Stimme: „Halbohr, ihr seht so traurig aus. Grübelt nicht über den Tod. Ihr hattet kein Glück heute. An einem anderen Tag wird es wieder anders aussehen.“ Er blickte auf und sah, dass Neire ihn freundschaftlich anlächelte. Doch irgendwie traute er den Worten nicht und vermutete einen bösen Spott. Als er jedoch keine weitere Reaktion des jungen Priesters sah, nickte er ihm freundlich zu. Neire erhob erneut die Stimme: „Ihr solltet vielleicht einen Witz erzählen Halbohr. Das wird euer Gemüt sicherlich aufheitern.“ Halbohr schwieg. Er kannte einige soldatische Scherze aus der vergangenen Zeit, doch diesen waren unangebracht hier und spiegelten nicht seine Laune wider. „Es gab eine Zeit, da habe ich ihnen die Kehlen aufgeschlitzt. Denen, die Witze machten.“ Erwiderte er barsch. Er hörte das helle Lachen von Neire. „Kehlen aufschlitzen, das ist der Witz, eure Freude. Das ist doch ein Anfang Halbohr!“ Er sah, dass auch Bargh sich jetzt ein Grinsen nicht verkneifen konnte. Nach einer kurzen Zeit des Schweigens hörte er wieder die zischelnde Stimme fremder Intonation: „Wie wäre es hiermit? Ihr werdet Halbohr genannt, ja? Euch fehlt ein Ohr, ja? Wieso sollten andere mehr Ohren haben als ihr? Das ist doch ungerecht. Schneidet sie einfach ab Halbohr. Jedem, den ihr seht. Vielleicht eins, vielleicht zwei. Das ist doch viel besser als Kehlen aufzuschlitzen.“ Neire lachte jetzt mit seiner knabenhaften Stimme und Bargh stimmte ein. Auch Halbohr konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Der Junge hatte keine schlechten Ideen. Doch was sollte er dann mit den ganzen Ohren machen?

Sie hatten noch mehrere Tage gerastet in dem sechseckigen Raum. Die blaue Barriere hatte sie geschützt, doch gesehen hatten sie keine Kreatur. Wenn sie nicht geschlafen, gebetet oder meditiert hatten, hatten sie die wässrigen Pilze gegessen, von denen Bargh immer die doppelte Portion verschlang. Auch hatten sie sich unterhalten. Über dies und das und ihre Reise nach Grimmertal. Bargh hatte von einem Handelsposten berichtet, dessen Betreiber Rannos und Grimag waren. Als Bargh eine plötzliche Fieberkrankheit entwickelte, hatte ihn Neire mit der Kraft seiner Göttin geheilt. Dann waren sie aufgebrochen und hatten das dunkelelfische Gefängnis hinter sich gelassen. Ihr Weg führte sie nach der Beschreibung der Herrscherin durch die Tunnel der ewigen Dunkelheit. Nach stundenlangem Fußmarsch waren sie schließlich durch eine zerbrochene Türe in eine große unterirdische Halle geschlüpft, in deren Mitte sie die steinerne Steele sahen. Neben der zweiten doppelflügeligen Türe hatte Halbohr die Geheimtüre entdeckt, die nach der Aussage der Herrscherin zu einer kleineren Feste, mit Anschluss an die Oberwelt, führen sollte. Schließlich hatten sie sich für diesen Weg entschieden und die Geheimtüre und eine weitere Türe dahinter geöffnet. Jetzt standen sie am Eingang eines Raumes, aus dem ein sanftes mattes rötliches Licht hervordrang.

Neire betrachtete Halbohr, wie er geschickt in den Raum glitt, der sich vor ihm auftat. Schon zuvor hatte er die Bewegungen des Elfen studiert, als er mit seinen Dietrichen das Schloss der steinernen Türe geöffnet hatte. Der Raum war sechseckig in den Stein geschliffen und besaß einen gegenüberliegenden Ausgang. Einrichtung, wie Betten, Hocker, Tisch und Truhen, waren allesamt aus Stein. Sogar eine steinerne Wanne stand dort, in der Neire Wasser aufschimmern sah. Aber Neires Blick fokussierte sich auf den Bereich des rötlichen Glühens. Er sah dort eine kleine Feuerschale, in der drei brennende Kohlestücke lagen. Als er sich der Schale näherte, spürte er die wohlige Hitze, die von dort ausging. Seine Kameraden Bargh und Halbohr durchsuchten derweil den Raum. Neires Gedanken schweiften in die Vergangenheit. Er erinnerte sich an Bereiche des Palastes von Nebelheim, die mit immerbrennendem Feuer versehen waren. War das eine ähnliche Magie? War sie göttlich? Er wurde erst aus den Gedanken gerissen, als Halbohr sich an der zweiten Türe zu schaffen machte. Noch immer dachte er daran Halbohr aufzumuntern. Vielleicht durch ein kleines Spiel. „Halbohr, lasst uns ein kleines Spiel spielen, eine Wette.“ Er sah, dass der elfische Söldner an der Tür kniete und sich jetzt zu ihm umdrehte. Neire holte eine Platinmünze hervor und schnippte sie in die Luft. „Um ein Platinstück… Wer die brennenden Kohlen länger in der Hand halten kann hat gewonnen.“ Neire bemerkte, dass Halbohr grinste. Mit überheblicher Stimme antwortete er. „Ich habe gesehen, dass das Feuer in euch ist. Wie sollte ich gegen euch gewinnen können?“ „Er hat Angst, Bargh. Angst ein kleines Spiel zu spielen.“ Neire dreht sich zu Bargh und lachte höhnisch. Dann nahm er ein Stück Kohle in seine linke, vernarbte Hand. Augenblicklich durchfuhr ihn ein Schmerz und er vernahm den Geruch von verbranntem Fleisch. Doch auch genoss er den Schmerz, denn es war ihm, als ob er diesen kontrollieren könnte. Dann warf er das Stück zu Halbohr. „Schnappt!“ Doch Halbohr machte keine Bewegung und die Kohle fiel auf den Boden. Der Söldner schien jedoch in Wallung zu kommen. Verärgert zog er einen seiner Dolche und warf diesen auf Neire. Kurz vor ihm prallte der Dolch auf den steinernen Boden und er versuchte ihn dort mit dem Fuß zu fixieren. Das gelang ihm nicht ganz. Die Klinge brach am Griff ab schlitterte durch den Raum. Den Griff hatte er unter seinem Stiefel fixiert. Neire bückte sich und zog den Griff hinauf. Er warf ihn Halbohr zu und sprach. „Hier Halbohr. Mein Teil der Wette ist erfüllt. Ihr schuldet mir ein Platinstück.“

Sie waren danach dem Tunnel gefolgt, der sie hinter der Tür aus dem Raum führte. Es war langsam bergan gegangen. Nach einiger Zeit waren sie dann an das Ende des Tunnels gekommen, an dem acht kleinere Löcher in schlankere Gänge mündeten. Der Geruch von Moder und Fäkalien war hier allgegenwärtig gewesen. Glücklicherweise hatten sie Spuren gefunden, die in einen der Gänge führten. Neire hatte nach Pflanzen und Pilzen gesucht und in einer Nische Grabmoos entdeckt. Eine Flechte, die das Verrotten von Leichen beschleunigte. Auch konnte aus Grabmoos ein Gift hergestellt werden, das die Blutung von Wunden förderte. Sie hatten das Grabmoos verstaut und waren den Gängen gefolgt, die nun steiler nach oben führten. An vielen Abzweigungen vorbei waren sie, den Spuren nach, an eine Engstelle gekommen, die sie nur mühevoll passieren konnten. Dann hatten sie die Spuren verloren. Doch der Tunnel vor ihnen wurde wieder breiter und war ebenerdig. Nichts war zu hören. Moos wuchs hier und dort und Unrat bedeckte den Boden. Der Gestank von Fäulnis und Fäkalien war überwältigend. Sie bissen die Zähne zusammen und traten ein in den noch unerforschten Bereich.​
 
Sitzung 20 - Die Verlassene Feste

Um sie herum war der Geruch von Fäulnis, Moder und Verfall. Die Luft schien zu stehen in dem Tunnel. Außer Halbohr mussten sich alle bücken, um nicht mit dem Kopf an die Decke zu stoßen. Der Gang war zwar breiter geworden, doch neben Pestilenz und Fäkalien war es, als würde sie das Gewölbe selbst zerdrücken. Bargh war voran gekrochen. Auf einen Bereich zu, an dem sich der Tunnel gabelte. Der Krieger, mit dem von Brandwunden bedeckten Kopf, musste sich immer wieder niederknieen. Jetzt stützte er sich gerade auf sein Langschwert und drehte sich um, um nach seinem Gefährten Neire zu sehen, der dicht hinter ihm folgte. Für einen kurzen Moment blitzte der rote Rubin auf, der das rechte Auge von Bargh ersetzt hatte und mittlerweile mit dem umliegenden Fleisch verwachsen war. Hinter Neire folgten Halbohr und zu guter Letzt Gundaruk, der mit einiger Mühe die engen Tunnel überwunden hatte. Halbohr bemerkte sofort, dass irgendetwas nicht stimmte. Selbst Neire, der zuvor immer wieder versucht hatte Dreck und Fäkalien von seinem roten Umhängemantel zu entfernen, zuckte zusammen und starrte in die Dunkelheit. Sie hatten von vorne ein Geräusch gehört. Wie ein Knacken von Knochen. Für einen kurzen Moment kehrte wieder Stille ein. Dann sahen sie Bewegungen, die sich zu den Geräuschen gesellten. Kreaturen, die sich aus dem Unrat des Bodens schälten. Sie geiferten nach Leben und begannen augenblicklich durch den Tunnel auf sie zuzustürmen. Von der Größe waren sie gewachsen wie kleine Menschen, doch ihre Haut war gräulich-blass, ihre Kleidung hing in Fetzen hinab und lange Zähne blitzten in der Dunkelheit auf. Die Gesichter waren eingefallen und entstellt und überlange Zungen lechzten nach Blut. Die Kreaturen rannten unkontrolliert auf sie zu. Dabei behinderten sie sich gegenseitig, warfen andere zu Boden oder stießen sie gegen die Wände. Bargh hob zum Schutz sein Schwert, doch die erste Kreatur hatte ihn bereits erreicht. Schläge und Bisse prasselten auf Krieger Jiarliraes hernieder, der durch die Brutalität der Angriffe wie gelähmt schien. Für einen kurzen Moment war das siegessichere Geheul der Ghule zu hören, von deren Zähnen und Klauen Barghs Blut floss. Doch nur für einen kurzen Moment. Eine Woge rötlichen Feuers hüllte plötzlich den Tunnel in Flammen, entzündete die ersten Gestalten und trieb sie ein Stück zurück. Schon eilte Halbohr nach vorne und führte mehrere tödliche Angriffe aus. Sie wussten, dass die Kreaturen nicht nachgeben würden, dass sie weder Zweifel noch Furcht kannten. Sie mussten den Kampf annehmen, denn eine Flucht durch die engen Tunnel war ihnen verwehrt. So intensiv war die Schlacht, dass sie nicht bemerkten, dass Gundaruk sich in einen großen Luchs verwandelt hatte.

„Halbohr… Gundaruk! Stellt euch vor Bargh und schützt ihn; er ist wie versteinert und kann sich nicht wehren.“ Sie hatten die erste Welle der Kreaturen niedergestreckt und hörten in dem sich gabelnden Tunnel bereits weitere Geräusche. Neire zitterte am ganzen Körper als er sprach. In seinen Augen war noch immer der rötliche Glanz und er hatte für eine kurzen Moment den Gestank des Tunnels vergessen. Er starrte zuerst Halbohr an, dann das große, elegante Tier, in das sich Gundaruk verwandelt hatte. Doch keiner befolgte seinen Befehl. Halbohr regte sich nicht und stand hinter ihm. Gundaruk war ein paar Schritt nach vorne gegangen und lugte in den rechten Tunnel hinein. Neire wiederholte den Befehl ein zweites Mal, doch seine Mitstreiter beachteten ihn nicht. Jetzt wuchs der Zorn in ihm. Ungläubige. Beide sind nur durch mich am Leben und mir zu Gehorsam verpflichtet. Sie sollten im Gegenzug Bargh mit ihrem Leben verteidigen. Neire trat ein paar Schritte auf den linken Tunnel zu. Er blickte in die Dunkelheit, hörte die Geräusche. Nur durch den Zorn konnte er seine Angst überwinden. Seine Gedanken waren bei Bargh, der sich noch immer nicht bewegen konnte und gegen eine der rauen Wände gesunken war. Haben sie so auch in den Eishöhlen gekämpft? Bestimmt haben sie dort keine Kameraden zurückgelassen, den Chin’Shaar zum Fraß vorgeworfen. Sie sind dort zu Kupfernen Kriegern geworden. Bargh ist auf seinem Weg zum Krieger Jiarliraes. Bargh darf nicht versagen. Ich muss ihn beschützen. Neire war ein paar Schritte auf den linken Tunnel zugegangen. Er spürte, dass Halbohr ihm gefolgt war. Jetzt konnte er die Geräusche hören. Ein Geifern und ein Schnappen. Leiber, die sich gegenseitig beim Fortkommen hinderten und doch auf sie zu hasteten. So stand der Junge alleine im Tunnel, den gewellten Degen mit dem Schlangengriff zitternd in Hand. Schon kamen die ersten Kreaturen um die Ecke gestürmt. Wie Hunde krochen sie allen Vieren voran. Doch die Gesichter waren nur im Entferntesten menschlich. Blutleer eingefallen und monströs entstellt. Neire versuche sie mit seinem Degen zurückzuhalten. Die langen Zungen schnappten ihm entgegen. Er spürte kaum den Schmerz, als eines der Wesen ihm in den Arm biss. Augenblicklich begann sich eine paralysierende Kälte auszubreiten, die seine Muskeln lähmte. Doch dann war da das Feuer. Es breitete sich von den drei Herzsteinen aus, die er in der linken Schulter trug. Es schmerzte. Die Pein war elektrisierend. Sein linker Arm begann in der Dunkelheit zu glühen, als ob von einer fluoreszierenden Schicht bedeckt. Neire wusste, dass er einen weiteren Segen von seiner Göttin erhalten hatte. Er beschwor die Flamme aus Schatten und Feuer in seiner linken Hand und murmelte die Beschwörungsformeln. Als das Feuer aus Magma aus dem Boden schossen und die Ghule, seine Mitstreiter und ihn einhüllten schrie er trotzig die Worte, die sich in den arkanen Singsang mischten: „Gehorcht… meinem… Befehl!“

Noch als die Verwandlung vollzogen war leckte sich Gundaruk seine Wunden. Das Verhalten des Tieres, der Verwandlung, war noch in ihm und er handelte instinktiv. Er erinnerte sich an den Kampf in Luchsform wie an einen Traum. Er hatte leise die Kämpfenden umschlichen und von hinten angegriffen. Zwei Ghule hatte er mit seinen Klauen und Bissen niedergerissen. Noch immer schmeckte er das faulige Blut in seinem Mund. Gundaruk spie aus und blickte sich um. Er befand sich in einer Höhle aus mehreren Findlingen, voll von Unrat, Fäkalien und Knochen. Wie ein unheiliger natürlicher Dom, eine Kapelle der Ghule, war das Innere anzusehen. Hier und dort konnte er Nester der Kreaturen sehen, doch keine Regung. Neires Feuer hatte die letzten Ghule in Flammen aufgehen lassen. Auch er war, wie Halbohr, von den Flammen des Jiarlirae Priesters erfasst worden. Gundaruk blickte sich um und sah an einem Felsen den elfischen Söldner sitzen. Halbohr schlug sich gerade die letzten Flammen aus, die von seinem verdreckten Mantel brannten. Gundaruk beugte sich nieder zu Halbohr und begann seine Wunden zu untersuchen. Er rezitierte den Runengesang seiner Vorfahren. Den Gestank konnte er nicht vertreiben, doch er sah zu seiner Erleichterung, dass die alte Heilkunst auch an diesem Ort wirkte. Die Wunden Halbohrs begannen sich langsam zu schließen. Jetzt, als er bei Halbohr kniete, begann Gundaruk zu sprechen. „Was hat sich Neire, was hat sich dieser Bengel eigentlich dabei gedacht?“ Er legte dabei eine Hand auf Halbohrs Schulter. Der Dolchkämpfer wich jedoch seinem Blick aus und murmelte unverständliche Worte. Für einen kurzen Moment herrschte Stille und Gundaruk kümmerte sich um seine eigenen Wunden. „Dieser Bengel hat euch aus dem Grab befreit und euer Leben gerettet. Vergesst das nicht Gundaruk! Ihr solltet ein wenig Dankbarkeit zeigen und meinen Befehlen folgen.“ Gundaruk drehte sich augenblicklich um, als er die Stimme hörte. Neire war zwischen zwei Findlingen aufgetaucht und grinste ihn an. Noch immer war ein rötlicher Schimmer in den Augen des Jungen. Die goldenen Locken schienen nicht vom Schmutz berührt worden zu sein. Wenn er so lächelte sah sein Gesicht so lieblich, so unschuldig aus. „Das Grab in dem Felsen, ja. Woher wollt ihr das wissen, Neire? Woher wollt ihr wissen, dass ihr mich gerettet habt?“ Gundaruk sah, dass der Junge jetzt wütend wurde. Neire stampfte mit einem Fuß auf dem Boden. „Wissen Gundaruk? Durch mich spricht Jiarlirae, die Größte unter den Göttern. Ich habe den Schlüssel zu Feuer und Schatten. Ich kenne die Namen der Erzdämonen der Hölle. Fragt mich nicht nach meinem Wissen.“ Gundaruk sah, dass jetzt auch Bargh in der Öffnung erschien. Der gefallene Paladin wurde anscheinend angestachelt durch die Rede Neires. Bargh fing an zu schreien. „Ist es soweit Neire? Ist jetzt die Zeit zu handeln?“ Gundaruk sah, dass sich die Miene von Neire änderte. Plötzlich hob er beschwichtigend seine linke vernarbte Hand. „Lasst ab, Bargh. Es sind Ungläubige. Dennoch müssen sie wissen, dass sie das Leben eines heiligen Krieger Jiarliraes zu schützen haben.“ Bargh war noch immer sichtlich erregt und schlug mit seinem Panzerhandschuh in das Felsgestein der Wand. In seinem verbliebenden Auge konnte Gundaruk einen fanatischen Blick erkennen. „Lasst es zu… lasst die Flammen euch verbrennen. Erst tut es weh, doch dann werdet ihr die Macht spüren.“ Als Bargh sprach, überschlug sich fast seine Stimme und das Lispeln der erst kürzlich gespaltenen Zunge war nicht zu überhören. Ohne die Miene zu verziehen, drehte sich Gundaruk um und verließ die Höhle von Unrat. Er kannte den Blick von Fanatikern und wusste, dass die Auseinandersetzung mit ihnen keinen Sinn machte.

Halbohr war noch immer an den Felsen gelehnt und hatte die Szene beobachtet. Gerade als er sich erheben wollte, trat Neire an ihn heran. „Halbohr, die Sache mit dem Feuer tut mir leid, aber ich hatte keine andere Wahl. Wenn ihr das gesehen hättet, was ich gesehen habe, hättet ihr nicht anders gehandelt.“ Halbohr runzelte die Stirn und dachte nach. Irgendwie glaubte er Neire nicht ganz. „Was habt ihr gesehen Neire? Wieso sollte ich euch glauben?“ Neire legte ihm sanft einen Arm auf die Schulter. „Halbohr, ich bin ein Kind der Flamme. Ich habe die Runen im Magma des inneren Auges betrachtet. Mein Leben lang. Die Runen aus Feuer und Schatten, sich ewig verändernd. Sie bergen die Geheimnisse des Chaos, die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft; die Magie von Jiarlirae.“ Halbohr stieß verächtlich die Luft aus. „Wenn ihr die Zukunft lesen könnt Neire, dann erzählt mir doch, was uns erwartet in dieser verlassenen Feste.“ Neire nickte und nahm den Arm von seiner Schulter. „Ich wusste, dass sie nicht verlassen war. Vielleicht hat uns die Herrscherin angelogen, vielleicht hat sie auch die Kontrolle über ihr Reich verloren. Es macht keinen Unterschied.“ Halbohr nickte und dachte zurück an die Begegnung mit der seltsamen Dunkelelfin, die sie auf die Jagd nach dem goldenen Schädel geschickt hatte. Dann bemerkte er, dass Neire nur über die Vergangenheit gesprochen hatte. „Und was ist mit der Zukunft, was erwartet uns in den nächsten Tunneln?“ Halbohr spürte, dass Neire die Antwort nicht leichtfiel. „So funktioniert es nicht Halbohr. Man kann diese Fähigkeit nicht herausfordern. Die Dinge entfalten sich von selbst, wie eine Flamme, die ewig tanzend mit der Dunkelheit ringt. Die Geheimnisse liegen im Schatten und im Feuer.“ Neire machte eine kurze Pause. „Ich sollte diese Macht nicht verschwenderisch einsetzen. Alles hat seinen Preis.“ Jetzt war es Halbohr, der anfing zu grinsen. Er hatte so etwas schon oft gehört. Alte Kameraden hatten Weissager aufgesucht und dort ihre Münzen gelassen. Gebracht hatte es ihnen nichts; sie hatten alle ins Gras gebissen. Als ob Neire seine Gedanken ahnen konnte, erhob er erneut das Wort. „Selbst wenn ich es wollte Halbohr, ich weiß nicht, ob ich euch helfen könnte. Es ist wie mit der Heilung, ihr müsst glauben, beten zu Jiarlirae… Eine große Zukunft könnte auf euch warten. Ihr könntet mit mir nach Nebelheim zurückkehren. Wir würden dort herrschen und ihr werdet alles haben, Halbohr. Gold, Juwelen, Frauen, Sklaven, was auch immer euch gelüstet.“ Halbohr konnte nicht leugnen, dass die Gedanken an die ferne, unterirdische Stadt seine Fantasie schweifen ließen. Der seltsame Jüngling, der an diesem Ort auf ihn einredete, war dort aufgewachsen. Halbohr glaubte sogar, dass Neire in Bezug auf Nebelheim die Wahrheit sprach. Der Reichtum und die Macht mussten unermesslich sein. Doch sie hatten andere Dinge zu tun. Gerade waren sie aus den Katakomben aufgestiegen und Neire schien nicht zu wissen, was hier noch auf sie wartete. So erhob sich Halbohr und schritt auf den Gang zu. Er drehte sich noch einmal um zu Neire und flüsterte. „Nebelheim ist weit weg, Neire. Wir haben hier andere Dinge vor uns und ihr könnt nicht sagen was uns erwartet. Also achtet auf eure Flammen.“

Sie waren danach weiter vorgedungen durch die Tunnel und hatten eine große unterirdische Gruft erreicht. Dort hatten sie sich in die Schatten geduckt, da sie ferne Stimmen und ein Rasseln von Ketten gehört hatten. Als die Stimmen sich entfernt hatten, waren sie in das Gewölbe vorgedrungen und hatten es durchsucht. Doch sie hatten nur leere Särge und ein verschlossenes Gitter gefunden. Dahinter war ein Gang zu sehen gewesen, in dem Fackeln brannten. Nachdem Halbohr das Schloss geknackt hatte, waren sie weiter durch den Tunnel geschlichen und standen jetzt an einer Gabelung. Im rechten Tunnel waren Stufen zu erkennen gewesen, die in die Tiefe führten. Kurz berieten sie sich über das weitere Vorgehen. Sollten sie dem rechten Tunnel folgen und einen Hinterhalt möglicher Bewohner aus der Tiefe riskieren oder den linken Tunnel nehmen, von dem sie nicht wussten ob er sie an die Oberwelt führen würde.​
 
Sitzung 21 - Die Verlassene Feste II

Von dem Feuer aus Knochen stieg der Geruch von gebratenem Krebsfleisch auf. Das monströse Ungetüm, das sie in den Tiefen erlegt hatten, war vor dem dunklen See zusammengesunken. Hier, in der unteren Halle, hatte Gundaruk große Stücke von Fleisch aus der Kreatur geschnitten. Neire hatte ein Feuer aus den Knochen der Opfer errichtet, die das Wesen irgendwann einmal verspeist hatte. Sie hatten sich zuvor in den dunklen Fluten des kleinen unterirdischen Sees gewaschen und ihre Kleidung gereinigt. Jetzt brutzelten die großen Stücke, die sie in die Flammen gelegt hatten und verbreiteten einen angenehmen Geruch. Für einen Moment vergaßen die Helden die Strapazen, die sie seit der Flucht durch Regen und Unterreich erlitten hatten. Sie genossen schweigend das köstliche Fleisch, das einen schweren, salzigen Geschmack hatte. Bargh verschlang wie gewohnt die doppelte Menge. Doch sie wussten, sie konnten hier nicht länger bleiben. Sie erinnerten sich an die Stimmen, die sie zuvor gehört hatten. Da waren die brennenden Fackeln im Gang gewesen, die erst kürzlich erneuert worden waren. Als sie schließlich aufbrachen, blickte Gundaruk ein letztes Mal zurück auf die Knochen und den Moder: „Es kommt mir vor, als wären wir am Ort des Abfalls gelandet.“ Sprach er und blickte die Treppe hinauf. Neire lächelte ihn in diesem Moment an und flüsterte. „Auch wenn wir uns an einem Ort des Abfalls befinden… so werden wir einst aufsteigen, wie glühende Juwelen am Nachthimmel; wir werden die Welt überkommen.“

Neire blickte an Bargh vorbei in den von Fackeln erhellten breiten steinernen Gang. Halbohr war schon vor einiger Zeit vorgeschlichen. Jetzt war er entweder in der Dunkelheit oder hinter einer Ecke des unterirdischen Weges verschwunden. Neire nickte Bargh zu und sah, dass der Krieger Jiarliraes sich vor ihm in Bewegung setzte. Leise klirrten die Kettenglieder, die die schweren Platten seiner Rüstung zusammenhielten. Neire schlich hinter seinem Mitstreiter und konnte dessen verbrannten Schädel im Fackellicht sehen. Der Kopf von Bargh war völlig haarlos und die Haut immer noch gerötet. Schließlich erreichten die beiden das geöffnete Portal, an dem der Gang einen Knick machte. Dahinter sah Neire eine weitere Türe zur Linken und schemenhaft die gekniete Gestalt von Halbohr. Der elfische Söldner blickte zu ihnen auf und hatte den Zeigefinger auf den Mund gelegt. Mit einer Kopfdrehung deutete er auf die geschlossene Türe. Neire trat vorsichtig dort hin und legte ein Ohr an das Holz. Er hörte gedämpfte menschliche Stimmen, Schritte und Gelächter. Augenblicklich stieg die Aufregung in ihm. Wieso sollten hier Menschen hausen, so nah bei den Monstern und untoten Geschöpfen? Vielleicht waren es Räuber, Geflüchtete oder eine Art Kult? Vielleicht waren es aber auch Suchende, so wie er selbst. Er war sich sicher, dass sie ihn mit offenen Armen empfangen würden. Sie mussten sich nach einer Abwechslung sehnen. Sie würden seiner Schönheit zugetan sein, seinem Witz und seinen weisen Worten lauschen. Neire schaute zu Halbohr und deutete eine Klopfbewegung an. Er sah, dass Halbohr ihn zuerst fragend anschaute, aber dann mit den Schultern zuckte. Jetzt drang das Geräusch des dumpfen Holzes durch den Tunnel: Drei kurze feste Schläge. Für einen Moment herrschte Stille. Dann konnte Neire Schritte hören, die sich näherten. Es gab das Geräusch eines zurückgezogenen Riegels, dann glitt die Türe knirschend auf. Neire bemerkte, dass Halbohr sich bereits in die Schatten zurückgezogen hatte, als das Licht aus dem Inneren hervordrang. So stand der junge Priester alleine im Gang und musterte seinen Gegenüber. Ein noch recht junger Krieger war ihm entgegengetreten. Er trug ein Schwert und einen Schuppenpanzer, über dem ein Waffenschurz zu sehen war. Dort war ein großes blaues Auge, umgeben von gelben Flammen dargestellt. Ein okkultes Symbol, das Neire nicht kannte. Vielleicht war es neueren Ursprungs. Für einen kurzen Moment herrschte eine gespannte Stille. Blaue Augen funkelten Neire misstrauisch an. Dann nahm der Jüngling tief Luft und hob sein Kinn. Er versuchte sein Zittern zu kontrollieren und sprach mit zischelnder Stimme eines fremden Akzentes. „Mein Name ist Neire. Wir sind von weit her gekommen um uns euch anzuschließen. Doch wir verlangen eine Bezahlung.“ Neire hielt in der rechten Hand den gewellten Degen mit dem Schlangengriff; doch nicht in einer feindseligen Pose. Er strich sich mit seinem verbrannten Arm die gold-blonden Locken zurück, die ihm ins Gesicht gefallen waren. Doch das Gesicht des Kriegers vor ihm verzerrte sich und er begann zu schreien. „Alarm, Alarm… Eindringlinge.“ Neire sah bereits, dass in dem langen, Fackel-erhellten Tunnel dahinter Bogenschützen ihre Positionen eingenommen hatten. Wut stieg in ihm auf. Hatte er nicht freundlich mit dem Krieger gesprochen. Sich sogar höflich vorgestellt. Ich muss es wie die Platinernen Priester tun. Ich muss sprechen mit der Stimme der schwarzen Natter. Tragen das betörende Feuer der Schatten. „Ich bin als Suchender gekommen und wollte euch meine Fähigkeiten anbieten. Sehet, was das Kind der Flamme im Stande ist zu tun.“ Neire hatte bereits seine linke Hand nach vorne gestreckt. Mit dem Ballen nach oben, wie man einen Apfel halten würde. Schon begann die Flamme aus Magma und Schatten zu züngeln, als ob sie aus seiner Haut selbst brenne. Er sah, dass die Krieger gebannt in das tanzende Licht blickten. Neire murmelte jetzt die zischelnden Worte uralter Gebete aus Nebelheim. Es waren die Verse des Abgrundes, die Reime aus der Düsternis. Schon blickten die Krieger gebannt in die Flammen und konnten ihre Augen nicht mehr lösen. Neire begann mit seinem einflüsternden Singsang: „Ihr dienet mir. Geleitet mich zu eurem Anführer. Tuet, was ich sage.“ Die zwölf Worte hallten vor Macht und die Augen Neires brannten wie glühende Kohlen. Doch zwei der Krieger widersetzten sich seinem Befehl. Neire konnte nichts tun, als sie sich zum Angriff bereit machten. Er bemerkte jetzt, dass Bargh zu ihm aufgeschlossen war und begann Schritt für Schritt in den Tunnel zu vorzudringen. Tatsächlich eskortierten ihn die Krieger. Dann hörten sie weitere Stimmen und Schreie. Sie kamen aus einer Windung, die sie nicht einsehen konnten. Neire begann abermals den alten Hohegesang zu rezitieren. Nun waren es die Gebete der Menschenschlange des wahren Blutes. Er entfesselte damit die Wut der Anhänger des Chaos - der Getreuen Jiarliraes. Schon sah Neire Geifer aus dem Mund von Bargh laufen. Der große Krieger stürzte sich auf den ersten Widersacher, der seinem bezirzendem Schlangenfeuer standgehalten hatte. Mordlüstern durchbohrte er dessen Brustkorb. Der Kristall, der das rechte Auge von Bargh ersetzte, schimmerte jetzt rötlich, als ob eine dunkle Flamme in ihm brennen würde. Sie rückten gemeinsam vorwärts und der zweite Widersacher flüchtete sich tiefer hinein, in die Behausung der Anhänger des brennenden blauen Auges. Auch Halbohr war plötzlich zu sehen und eilte voraus bis zur Ecke. Dort begann er mehrere Dolche in den Raum zu werfen, der sich hinter der Biegung auftat. Als sie die Ecke erreicht hatten erblickte Neire die Halle und die feindlichen Krieger. Ein halbes Dutzend Gestalten konnte er sehen. Jetzt rief er zu Bargh und denen, die in des Feuers Bann waren: „Greift an. Tötet sie, denn sie haben euch verraten.“ Sie stürzten nach vorne und ein grausames Gemetzel begann. Bargh war wie in einem Kampfrausch. Neire lächelte und hielt die Chaosflamme der alten Göttin in die Höhe. Er trieb sie an und betrachtete das Blutbad. Den Abriss zu Leichen, zertrümmert und zerbrochen, den Haufen der Eingeweide – feucht und dampfend; durchtrennte Sehnen, verstümmelte Gesichter und abgerissene Haut. Heftiges Scheiden, ernsthaftes Hacken – Todesgeräusche erfüllten die Luft.​

Halbohr hatte den Kampf wie einen Traum erlebt. Alles war so langsam passiert und doch so schnell vorrübergegangen. Als Söldner kannte er dieses Gefühl aus vergangenen Schlachten, doch einen Kampf, der in dieser Brutalität geführt wurde, hatte er noch nicht erlebt. Begonnen hatte es durch den okkulten Gesang von Neire. Der liturgische Choral hatte ihm Kraft gegeben und er hatte die Macht des Chaos gespürt. Seine militärische Disziplin hatte er verloren, doch jeder seiner Angriffe war anders gewesen. Sie hatten alle ein Überraschungsmoment gehabt, waren geglückt und hatten ihn vor größerem Schaden bewahrt. Darüber hinaus waren sie tödlich gewesen und hatten ihn weiter angestachelt. Als ob er durch die Mordlust von Bargh mitgerissen worden wäre. Dann war der Krieger aus einer hinteren Türe erschienen und Halbohr hatte ihn direkt als Anführer erkannt. Ein Mann von hoher, aber nicht übergroßer Statur, mit blondem Haar und feinen Gesichtszügen. Kaum war er erschienen, wurde er von Neire angegriffen. Eine Kugel aus dunklen Magmaschatten verbrannte ihn; nekrotisierte seine Haut. Danach flüchtete der Mann, durch die Türe, durch die er gekommen war. Jetzt, nachdem Bargh und er alle feindlichen Krieger getötet hatten, standen sie vor eben dieser Türe, die metallverstärkt und versehen mit einem Schlüsselloch war. „Reißt sie nieder, brecht sie auf!“ Halbohr hörte die Worte von Neire und spürte für einen Moment die Freude selbst dem Befehl Folge zu leisten. Doch er hielt sich zurück. Er sah das Feuer in den Augen des Jünglings. Neire hatte offensichtlich ein weiteres Mal seinen Verstand verloren und war von purer Mordlust angetrieben. Halbohr hörte das gewaltige Krachen, als Bargh seinen gepanzerten Körper gegen die Türe warf. In diesem Moment gab es ein Leuchten, das von der Türe ausging. Das Portal hielt stand, doch eine betäubende Magie, getragen durch das silberne Licht, strömte auf ihn. Er spürte wie sich sein elfisches Blut sträubte, hörte die Stimmen aus der Ferne. Jetzt überschlugen sich die Dinge. Bargh torkelte zurück und schrie wie verrückt. Ich muss sie zur Vernunft bringen.Wir müssen zusammen kämpfen und zusammen werden wir die Eingeweide der Erde verlassen. Wie in einem plötzlichen Wachheitszustand richtete Halbohr die Stimme an Neire und Bargh. „Neire, Bargh! Wo ist Gundaruk? Ich habe ihn nicht mehr gesehen. Wir müssen ihn suchen. Vielleicht befindet er sich in Gefahr.“ Halbohr starrte Neire eindringlich an, doch das Kind der Flamme schien nicht zu reagieren. Als sich Halbohr umdrehte, hörte er erneut den zischelnden Singsang von Neire. Diesmal war das Feuer in den Augen des Kindes der Flamme intensiver. Halbohr eilte den Tunnel zurück. Weiter und weiter. Das letzte was er sah, war das Brennen, das aus den Augen Neires hervorbrach und alles in seinem Weg zerstörte.

Vielleicht war es ein Instinkt, der Kontrolle über das Handeln von Gundaruk nahm. Erfahrung kam durch Wissen und durch Anwendung. Stärke war keinem in die Wiege gelegt. Sie kam durch den Kampf, das Fallen und das Wiederaufstehen. Instinkt war die Summe aus allem, aus Erfahrung und Weisheit und - vor allem - aus dem Lernen vergangener Fehler. Vielleicht war es dieser Instinkt, der Gundaruk dazu bewog einen anderen Weg zu nehmen und an der noch unerforschten weiteren Türe zu lauschen. Er sah seine Kameraden in den fackelerhellten Gang verschwinden und ihn erfüllte ein Gefühl von Wehmut. Dieses Gefühl war jedoch nicht in dem Verhalten seiner neuen Freunde begründet. Es war vielmehr eine Erinnerung die ihn plagte. Eine Entscheidung, die er damals in einer Schlacht getroffen hatte und die zu viel Leid geführt hatte. Vielleicht war es dieser Instinkt, der nun sein Unterbewusstsein bewog diese Entscheidung erneut zu treffen – in der Hoffnung das Schicksal möge sich diesmal zu einem Besseren wenden. Seit dem Verlassen des Grabes war Gundaruk wieder völlig allein. Er umklammerte den elfischen Speer und betrachtete das Runenband aus Gold, das den ewigen Ruhm und den Glauben seiner Vorfahren trug. Diese Betrachtung führte zu einer tiefen Zuversicht, die ihm Halt gab. Dann war da plötzlich der Schrei. Er hörte den Alarm Ruf aus den Tunneln und machte sich kampfbereit. Hinter der Türe waren jetzt lautere Geräusche zu vernehmen. Gundaruk hatte sich bereits angriffsbereit gemacht, als der Kampf begann. Die Türe wurde aufgerissen und er sah dahinter riesenhafte Kreaturen, in der Form von aufrecht gehenden Hyänen. Nahkämpfer stürmten heran – in der unterirdischen Halle bemerkte er Bogenschützen. Ein Gemetzel begann, als er den Speer wie eine Nähnadel des Schicksals bewegte. Nur waren es die Fäden des Lebens die er durchtrennte. Wie in einem Rausch kämpfte Gundaruk. Bis zur totalen Erschöpfung. Angriff um Angriff führte er, Leib um Leib fällte er. Er spürte nicht die vielen kleinen und tieferen Wunden. Hier verletzte ihn ein Morgenstern, dort eine Axt. Er sah die Bilder einer Schlacht aus seiner Jugend. Schneebedeckte Berge, ein Tal und einen See. Die Burg auf der kleinen Insel war dem Untergang geweiht, sollte er sie nicht verteidigen. Er hatte die Übermacht an Gegnern bereits dezimiert und er schwelgte bereits in dem Sang seines Landes – die Steine, Eichen, Haine und Runen. Dann kam der Schlag. Kreaturen waren durch die hintere Türe durchgebrochen. Er hatte sie zu spät bemerkt. Die Wurfaxt senkte sich tödlich auf seinen Kopf. Er spürte, wie seine Glieder weich und warm wurden, als er zusammenbrach. Seine letzten Gedanken waren bei seinem stolzen Volk.​
 
Sitzung 22 - Die Verlassene Feste III

Leise und schnell bewegte sich der elfische Söldner durch den Fackel-erhellten Tunnel. Er wusste nicht wo Gundaruk sich befand, doch er ahnte, wo er sein musste. Halbohr folgte seinem Instinkt und seiner taktischen Ausbildung als Söldner. Als er um die Ecke blickte, sah er, dass die zuvor verschlossene Türe jetzt geöffnet war. Dahinter war ein weiterer Raum zu sehen, in dem sich ein Knäuel von grünlichen und hyänenähnlichen Kreaturen befand. Diese standen aufrecht und schlugen auf etwas ein; etwas, das auf dem Boden lag. Sein Instinkt hatte Halbohr nicht betrogen. In dem Knäuel sah er für einen kurzen Moment den blutverschmierten Kopf von Gundaruk. Halbohr wusste, dass er jetzt handeln musste. Falls Gundaruk noch lebte, würden die blutrünstigen Geschöpfe nicht lockerlassen; sie würden auf ihn einschlagen bis er sich nicht mehr regte. Dann würden sie ihn zerreißen und bei rohem Leibe verspeisen. Doch Halbohr wusste, dass auch sein Leben auf dem Spiel stand. Den Kampf mit fast einem Dutzend Gegner konnte er nicht aufnehmen. Er packte seine Dolche fester und trat aus den Schatten in das Fackellicht. Seine gerufenen Laute ahmten die gesprochenen Worte der Kreaturen in einem Spott nach und er sah wie sie sich umdrehten. Jetzt spürte er das Adrenalin; sein Herz begann zu pochen. Doch seiner militärischen Ausbildung nach, musste er sie an einem anderen Ort stellen. Einem Ort, den er zu seinem Vorteil nutzen konnte. Halbohr wartete einen Moment und zog sich dann mit hastigen Schritten in den Gang zurück. Er lockte die Gestalten die ihm folgten in die Dunkelheit, doch er sah nicht wie viele ihm folgen. Auch ließ er Gundaruk seinem Schicksal zurück. Doch so war nun mal der Krieg. Es mussten Entscheidungen getroffen werden und Entscheidungen bedeuteten nun mal Leben oder Tod.

Flammen schlugen aus dem versperrten Portal. Rauch und Asche strömten ihm entgegen. Das Kind der Flamme ließ den grausamen Strahl von rötlicher Magmafarbe abebben. Das Feuer loderte noch in seinen Augen. Vor ihm hatte Neire die Türe in fast zwei Stücke verbrannt. Die Flammen prasselten aus dem Holz und um das geschmolzene Metall. Sie drohten Neire zu verzehren. Doch den jungen Priester schien das nicht zu irritieren. Er hob seinen mit gold-blonden Locken umspielten Kopf und machte einen Schritt in Richtung der Türe. In diesem Moment konnte ihn nichts aufhalten und er fühlte sich unbesiegbar. Neire hob die schattenhafte Chaosflamme in seiner linken Hand und zeigte mit seinem gewellten Degen auf die Türe. „Voran Bargh, Drachentöter Jiarliraes, voran!“ Angetrieben von seinem schlangenhaften Singsang ließ Bargh seinen niederen Instinkten freien Lauf. Schweiß lief mittlerweile vom haarlosen und von Brandwunden gezeichneten Kopf des noch jungen Mannes. Der Krieger Jiarliraes warf das massive Gewicht seines silbern schimmernden und von Scharten gezierten Plattenpanzers gegen die brennende Türe, die augenblicklich zerfetzte. Im Glutregen sahen Neire und Bargh nun das dahinter liegende Gemach. Kein Ausgang war zu erkennen und ein Feuer loderte in einer kleinen Schale. Die Einrichtung war kostbar. Viele Teppiche und Wandbehänge schimmerten in seltenen Fliederfarben. In die nähere Betrachtung fiel ein großer Wandspiegel, vor dem eine kristallene Vase auf einem kleinen Tisch stand. In diesem Gefäß waberte eine rötliche Flüssigkeit wie Nebel. Im hinteren Teil des Raumes bemerkten sie zudem einem kleinen Altar mit einer silbernen, acht-beinigen Spinne. Eine schwarze Kerze war an jedem Bein entzündet. „Kommt hervor ihr Gewürm!“ Die bedrohliche Stimme Barghs überschlug sich fast vor Wut, als der etwa 19 Jahre alte Krieger wutentbrannt in den Raum eindrang. Neire sah wie Bargh auf das Bett zusteuerte, das eine verdächtige Wölbung angenommen hatte. Mehrere Stiche und Hiebe ließ er auf das Bett niedergehen, so dass weiße Federn aufgewirbelt wurden und sich mit dem dunklen Rauch vermischten. Neire trat währenddessen an die Vase heran und ließ den Feuerstrahl aus seinen Augen wieder auflodern. Unter dem Knistern und Knacken der Vase, auf die der Strahl gerichtet war rief er zu Bargh: „Durchsucht den Raum, unterm Bett, im Schrank und hinter dem Schankeck. Der feige Bastard darf uns nicht entkommen.“ Neire konzentrierte sich auf die Flammen, sein Feuer erhitzte das Gefäß, das bereits glühte. Nur aus dem Augenwinkel sah er, dass der von ihm bezauberte letzte verbliebene Krieger ihn nun angriff. Neire ließ das Feuer seiner Augen nicht von der Vase weichen und führte zwei schnelle Angriffe mit dem Degen. Beide trafen ihr Ziel, der zweite umso tödlicher. Mit aufgeschlitzter Kehle ging der Krieger im Schuppenpanzer nieder.

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Jetzt lauerte Halbohr in den Schatten und bewegte sich nicht. Wie eine Vogelspinne konnte er so verharren – stundenlang. Er hatte gelernt plötzlich hervorzuzucken, das Momentum auf seiner Seite. Ein wahr gezielter und ein recht dosierter Angriff aus dem Hinterhalt konnte den mächtigsten Gegner fällen. Um Ehre hatte er nie gekämpft. Ehre war für starke Schwache. Sie fühlten sich stark, doch endeten schwach, wenn er sie ermeuchelt hatte. Aus dem Raum, in den sich der vermeintliche Anführer zurückgezogen hatte, bemerkte Halbohr Feuerschimmer und Rauch hervordringen. Zudem hörte er die Schreie von Neire von dort. Doch jetzt kamen sie. Er erlauschte Schritte aus dem Tunnel und sah bereits die ersten Kreaturen auftauchen. Die Grünlinge gingen voran. Halbohr betrachtete sie aus dem Verborgenen und studierte wunde Punkte. Sie waren groß und muskulös, von gedrungenen Gesichtern und mit spitzen Ohren. Nein, Orks waren es nicht. Dafür waren ihre Köpfe zu flach, ihre Nasen zu platt. Eher hatten sie Ähnlichkeiten mit Goblins, jedoch diesen in Größe und Stärke um ein Vielfaches überlegen. Hinter den vier Gestalten, folgten zwei der Hyänenkreaturen. Als die Feinde sich zum Kampf bereit machten, nutzte Halbohr seine Gelegenheit. Aus den Schatten schoss er nach vorne und rammte der ersten Hyänenkreatur den Dolch von hinten in den Hals. Das Wesen sank augenblicklich zu Boden, in einer leisen Bewegung, die von ihm geführt wurde. Die zweite Kreatur hatte ihn noch nicht bemerkt und wurde Opfer eines weiteren hinterhältigen Angriffes. Zwei Gestalten drehten sich jetzt zu ihm um, gierig nach Blut und Morgensterne in den Händen. Dann schoss plötzlich der brennende Strahl von Magma aus der Kammer des Anführers. Es musste Neire gewesen sein, dachte Halbohr. Der Kopf eines Wesens wurde in Flammen gehüllt und grausame Schreie erfüllten die unterirdische Wachstube. Nur einen Augenblick später sah Halbohr den dunklen Krieger mit dem rotschimmernden Rubinauge auftauchen. Wie in einem Blutrausch schlug Bargh der verbrannten Kreatur den Kopf ab und stach bereits die nächste nieder. Sie hatten die Feinde jetzt in einem Zangengriff; eine militärische Wendung, die nur den Sieg bedeuten konnte. Halbohr spürte noch immer die Mordlust des Gesanges der alten Chaosgöttin. Gemeinsam mit Bargh rang er die letzten Kreaturen nieder. Doch es waren nur sechs. In dem Knäuel bei Gundaruk hatten seine soldatisch geschulten Augen acht Gegner gezählt. Er durfte keine Zeit verlieren und drehte sich wortlos um, um den Tunnel hinabzustürmen. Was hatten die zwei verbliebenen Kreaturen mit Gundaruk angestellt?

Sie hatten das Gemach in ihrem Kampfrausch abgesucht, aber es glich eher einem Schlachtfeld. In blinder Wut hatten Neire und Bargh die glühende Vase zertrümmert. Erst hatte Neires feuriger Magmastrahl sie zum Glühen gebracht, dann hatte Bargh sie mit seinem Schwert zerschmettert. Der rötliche Nebel war aus dem Inneren gewichen und durch das Feuer aufgelöst worden, wie in einem Glitzern von Sternen. Doch vom Anführer der Wachleute gab es keine Spur. Verzweiflung überkam Neires Gemüt und er blickte sich langsam um. Um sie herum sah er die Spuren der Verwüstung. Das Feuer an der Eingangstüre war bereits ausgegangen. Ja, sie hatten eine Menge Schätze gefunden. Darunter eine mit Diamanten besetzte Goldkette und fast ein Dutzend wertvolle Feueropale. Doch Neire dachte an die Kupfernen Krieger und die Jagd in den Eishöhlen. Er erinnerte sich an die dunklen Geschichten. War damals eine der Kreaturen entkommen, konnte das einen Hinterhalt für die Kupfernen Krieger bedeuten. Ganze Expeditionsgruppen waren wegen eines solchen Grundes nicht zurückgekehrt. Er durfte nicht versagen. Er dachte an Lyriell. Was würde sie jetzt tun? Schon war die Aggression des Kampfes und die Mordlust vergessen. Er fühlte sich nicht mehr unbesiegbar, sondern klein und schwach. Kaum nahm Neire Notiz von Halbohr, der den schwer verwundeten Gundaruk in den Raum schleifte. Neben den vielen Schnittwunden trug Gundaruk auch Bissspuren. Drei der Wunden sahen entsetzlich aus, dort wo die Zähne der Kreaturen das Fleisch herausgerissen hatten. Die aufrecht gehenden Hyänen hatten anscheinend bereits begonnen Gundaruk zu verspeisen. Neire hatte sich dem Schreibtisch zugewendet. Er sah dort mehrere Briefe und eine markierte Karte. Die Briefe waren größtenteils Korrespondenzen. Ein Teil der Briefe belegte einen Schriftwechsel mit einem Heiligtum der vier Mächte. Ein sogenannter Lareth, vermutlich der verschwundene Anführer, forderte besseren Nachschub von diesem Heiligtum, das sich in der Nähe von Klingenheim befinden musste. Auch wurde über das jüngste Wetter gespottet. Ein anderer Teil der Briefe kam von der Dunkelelfin Raxira. Sie warf Lareth vor ein falsches Ziel im Namen der Spinnengöttin zu verfolgen. Er solle sich lieber um Ched Vurbal kümmern. Gemeinsam müssten sie den Kampf gegen Akatea Abyssa aufnehmen, die als geschuppte Pest verunglimpft wurde und den Zugang zum Nest der versteinerten Spinne versperrte. Den Namen Akatea Abyssa kannte Neire nicht, aber das Nest der versteinerten Spinne konnte er als Ched Vurbal interpretieren. In seiner Verzweiflung überstürzten sich die Gedanken in Neires Kopf: Die geschuppte Pest kann ein abwertender Ausdruck für einen Drachen sein. Halbohr hat doch von einem Drachen erzählt, oder vielmehr von Schuppen, die er im Gemach der Herrscherin gesehen hatte. Vielleicht ist die Herrscherin nicht diejenige, für die sie sich ausgibt. Vielleicht haben wir unter der Erde bereits Akatea Abyssa getroffen. Doch diese Gedanken brachten Neire keinen Mut. Er dachte an Raxira und ihre Beziehung zu Lareth. Anscheinend beteten sie beide zur schwachen Spinnengöttin. Vielleicht hatte Raxira Lareth etwas gegeben, durch das er sich hatte erretten können – teuflische dunkelelfische Magie. Vielleicht war er in Windeseile durch Raum und Zeit gereist, um sich in der Feste Faust und an der Seite von Raxira zu materialisieren. Sie mussten herausfinden, wer Akatea Abyssa war und was es mit diesem Heiligtum der vier Mächte auf sich hatte. Tatsächlich hatte Neire schon einmal von letzterem gehört. Ein Tempel der vier Elemente, der vor etwa 40 Jahren zerstört wurde und in der Nähe von Klingenheim lag. Neire blickte sich um. Halbohr kümmerte sich um Gundaruks Wunden und Bargh näherte sich dem kleinen Schankeck im Raum. Auch er sehnte sich nach den Festen von Nebelheim, den Getränken – dem Rausch. Doch er musste weiter untersuchen. Er murmelte die zischelnden Formeln und betrachtete den Spinnenaltar. Er bemerkte eine mittelstarke Magie der Veränderung, doch nichts weiter. Auch anderswo im Raum war keine Magie zu entdecken. An diesem Punkt gab er auf. Das Lachen und der angetrunkene Gesang von Bargh waren bereits laut zu hören. Neire gesellte sich zu ihm und trank. Die Getränke waren fein und hochprozentig. Sie tranken und lachten. Sie grinsten sich gegenseitig an, als sie ihre blutverschmierten Körper sahen. Doch es war das Blut der Feinde was an ihnen haftete. Das Gelage ging so eine Weile und es war Bargh, der in einem Übermut die erste Kristallkaraffe gegen eine Wand schleuderte. Das kostbare Gefäß zerbrach und der wertvollere Inhalt wurde über die Wand verteilt. Neire macht es Bargh nach und sie beide fielen in einen jugendlichen, unbedarften Freudentaumel von Zerstörungswut. Als das letzte Gefäß zerstört war, torkelte Neire bereits und sah verschwommen seine Umgebung. Er wusste, dass auch dieses Fest ein Ende haben würde. So wie damals in Nebelheim; beim Abstieg der Menschenschlange des wahren Blutes. Und da war er wieder; der Schmerz der Erinnerung. Er torkelte zum Spiegel und betrachtete sich. Dahin war seine Schönheit. Mit zischelnder trunkener Stimme sprach er zu sich selbst: „Kind der Flamme, paah. Ein Nichts bist du. Klein und schwach. Du hast versagt in Nebelheim und du wirst wieder versagen.“ Neire dachte an das letzte Bild von Lyriell und die Tränen liefen ihm über die Wangen. Er schlug mit geballter Faust in sein Ebenbild und sah sich selbst in Scherben zu Boden gehen.

Halbohr hatte Gundaruk gerade noch rechtzeitig aus dem Raum gezogen. Neire hatte sich plötzlich und ohne erkennbaren Grund in einen Wutrausch gesteigert. „Hinaus!“ hatte er trunken gebrüllt. Auch Bargh war davon getorkelt. Dann war das Gemach des Anführers in verstetigtem Magmafeuer explodiert. Gleißende magische Flammen und Dunkelheit. Kein Mensch konnte diese Hitze überleben. Doch nach einiger Zeit war Neire aus den Flammen erschienen. Mit feurigen Augen und gold-blondem schimmerndem Haar. Er hatte Lobpreisungen zu Jiarlirae gerufen und zum Kampf angespornt. Neire und Bargh hatten dann die Pferde gesattelt und mit Proviant ausgestattet. Als sie an Halbohr vorbeiritten, hatte Neire seinen fragenden Blick bemerkt und war seiner Frage zuvorgekommen. „Wir haben Dinge zu tun Halbohr, doch wir werden zurückkommen. Wir tragen die Chaosflamme der höchsten Göttin und erforschen die tiefsten Geheimnisse ihrer Schatten. Tut euren Teil Halbohr. Denkt an euren Vertrag.“ Mit diesen Worten warf ihm Neire die goldene Juwelenkette zu und verschwand mit seinem Kameraden Bargh durch den fackelerhellten Gang.​
 

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Sitzung 23 - Die Verlassene Feste IV

Es schwelte die Hitze der Flammen, die von Neire in den Baracken-Räumen der alten Feste entfacht wurden. Die Räume stanken erbärmlich nach dem Ruß verbrannten Holzes, Stoffes und Fleisches. Die riesige Gestalt Gundaruks lag in einer unruhigen Ohnmacht auf einer der Liegen. Sein Leib war gezeichnet durch Wunden, die die Speere der Hyänen Kreaturen ihm zugefügt hatten. Doch der Elf Halbohr wollte ihm keine Rast gönnen. Der grobschlächtige Söldner wog die Möglichkeiten ab, die sie hatten und vor allem die, die ihre Feinde hatten. Unsanft weckte er Gundaruk aus seinem Schlaf: „Gundaruk, wacht auf! Schlafen können wir später! Der Anführer der Wächter ist entkommen, wer weiß, wen er auf uns hetzt. Wir müssen ihn jagen, bevor er uns jagt!“ Halbohr war sich nicht sicher, ob er seinen Mitstreiter tatsächlich überzeugen konnte oder ob Gundaruk einfach zu geschwächt war, um anderer Meinung zu sein. Der kürzlich in einem Grabe erwachte große Mann aus einer fernen Vergangenheit beschwor die Kräfte der Natur. Die tiefsten Wunden begannen sich zu schließen. „Wo sind Neire und Bargh?“ fragte Gundaruk, nachdem er sich wunderte, dass die beiden Anhänger Jiarliraes nirgendwo zu sehen waren. Die einzige Antwort, die Halbohr darauf geben konnte, war: „Wer weiß schon, auf welche Irrwege die beiden sich begeben.“

Da alle Wächter der von ihnen erstürmten Gemächer als verwesende Leichen zu Boden lagen, entzündete niemand mehr die Fackeln in den Gängen. Dies wollte Halbohr nun ausnutzen und die Dunkelheit zu seinem Gefährten machen. Tatsächlich dauerte es auch nicht lange, und die Gänge lagen in tiefer Schwärze vor Halbohr und Gundaruk. Sie folgten dem Verließ zu der Halle in der Gundaruk gegen die Kreaturen gekämpft hatte. Blut bedeckte den ganzen Boden und ein Leichengestank lag über der Kammer. Als Halbohr eine der Türen in diesem Raum öffnete, stutzte er. Direkt dahinter war nichts weiter als blanker Stein. Kein Mechanismus oder versteckte Öffnungen waren zu sehen. Verwirrt verließen die beiden den Raum und folgten weiter den dunklen Gängen. Immer wieder hielt Halbohr inne und versuchte, Geräusche des Anführers der Wächter auszumachen, doch es herrschte nur Stille. Sie folgten den unterirdischen Tunneln und passierten eine Abzweigung, die mit einem schweren Eisengatter versperrt wurde. Hier kehrten sie um und erreichten einen weiteren Raum, der gefüllt war mit Zielscheiben und Puppen aus Stroh. In einigen kleinen Nebenräumen waren Zellen zu sehen, die wohl für Rekruten errichtet worden waren, die sich Verfehlungen bei ihrem Wachdienst eingehandelt haben. Im geistigen Auge Halbohrs blitzen bei dem Anblick Bilder seiner Vergangenheit auf. Er dachte zurück an Tage, als er noch nicht seinen Namen angenommen hat. Wie lange er in diesen Übungsräumen verbracht hatte und verdammt gewesen war, mit dem unfähigen Abschaum zu üben. Seine einstigen Kameraden, die ihr Glück oder - wie er selbst – vielleicht ihre Flucht im Soldatentum gesucht hatten. Eine der Türen in diesem Raum öffnete sich an eine blanke Felswand, doch diesmal sah Gundaruk einen leichten Schimmer. Es war ein feiner silberner Draht, der von der Ture in den Stein verschwand. Vermutlich ertönte irgendwo eine Alarm-Glocke, wenn ein Unwissender versuchte, diese Türen zu öffnen. Gundaruk und Halbohr gingen wieder zurück, als Halbohr in einem der Gänge feine Rillen entdeckte. Wieder fanden sie eine der verborgenen Türen die sie hier schon öfters entdeckt hatten. Hinter der Türe verbarg sich ein schmaler Gang, der an einer Konstruktion aus zwei großen hölzernen Rädern endete. Lag nicht auch das Gatter in der Nähe? Mit vereinten Kräften drehten sie ein Rad, was entfernt an das Steuerrad eines Schiffes erinnerte. Und tatsächlich hörten sie nicht weit das Schleifen von Metall auf Stein. Sie verließen den geheimen Raum und gingen zurück zu dem Gatter, dessen Gitterstäbe in Öffnungen in der Decke verschwunden waren. Treppenstufen zeigten den weiteren Weg nach oben. Gundaruk und Halbohr gelangten jetzt in einen Bereich der Feste, an dem die Wächter bisher kein Interesse gehabt hatten. Die Gänge und Räume hier schienen schon seit langer Zeit nicht mehr betreten worden zu sein. In einem Raum, dessen Wände mit alten staubigen Spinnweben bedeckt waren, hielt Gundaruk inne. Auch hier befanden sich feine Rillen in einer Wand und er entdeckte eine weitere verborgene Türe, die die beiden aufdrückten. Dort hinter führte eine Wendeltreppe nach oben. Entfernt konnten sie den schwachen Schein von Sonnenlicht ausmachen. Die Wendeltreppe endete an einer hölzernen Türe. Leise gingen die beiden Abenteurer auf diese zu, hatte Halbohr doch hinter der Türe Geräusche von Stimmen vernommen. Mit einem leisen Knirschen öffneten sie die Türe. Was sie dahinter erblickten überraschte nicht nur die beiden. Sie kamen in große Halle, deren Wände aus schwarzem Stein, mit Verzierungen aus Elfenbein bestand. Dieser Ort war jedoch in einem verwahrlosten Zustand. Eine Wand war völlig weggebrochen und offenbarte den Blick nach außen. Hinter Schlieren von Regen konnten sie den Zwielichtigen Saum des Waldes aufragen sehen. Doch was sie wirklich überraschte, waren die Gestalten, die um einen Topf auf einer Feuerstelle kauerten. Etliche Menschen, die noch nicht viele Winter erlebt hatten, waren hier versammelt. Jedoch schienen sie nicht zu der Wächterschar aus den unteren Stockwerken gehören. Jedenfalls trugen sie keinerlei Wappen. Gundaruk und Halbohr tauchten direkt hinter ihnen aus der Türe auf. Halbohr dachte einen Augenblick über eine Verhandlung mit den Gestalten nach, aber er wollte die Gelegenheit direkt nutzen und keine Risiken eingehen. Also stieß er seinen Dolch in die Kehle einer der Gestalten, die einen gold-glänzenden Streitkolben in der Hand hielt. Blutend und röchelnd fiel der Mann zu Boden. Auch Gundaruk zögerte nicht. Er stieß mit seinem Speer nach vorne und bohrte die Spitze in den Leib einer anderen Gestalt. Es dauerte nicht lange, bis die Gruppe von den beiden Abenteurern niedergemacht wurde. Sie konnten so gut wie keine Gegenwehr leisten. Sie atmeten die kalte Regenluft und begannen die Fremden zu untersuchen. Der Streitkolben aus Gold trug eine Inschrift: „Gold ist der Weg zum Reichtum; Macht ist Gier“. Alles in allem schienen Halbohr und Gundaruk in eine Gruppe von Grabräubern gelaufen zu sein, die dachten, die alte Feste wäre ein leichter Ort um an Reichtümer zu gelangen. Die eingestürzte Wand offenbarte auch, dass es vermutlich sehr einfach war über die Trümmer in diesen Turm zu klettern. Die beiden schritten weiter durch die obersten Stockwerke der alten Feste. Das Bild des Verfalls zog sich hier weiter fort. Sicherlich schien es mal ein prächtiger Ort gewesen zu sein, doch der Zahn der Zeit und die Zerstörung einiger Kriege hatte viele der Räume zusammenfallen lassen. Sie blickten in einen Innenhof, der übersäht war mit Schutt. Durch die eingestürzten Mauern konnten sie auf den überschwemmten Wald schauen, von dem die Feste umgeben war. Der Blick hatte etwas Trostloses und Einsames.

Plötzlich hörte Halbohr von einem der Türme ein Grollen, wie Stein auf Stein. Sie folgten dem Geräusch und kamen zu einem weiteren Turm. Auch hier war eine der Wände durch das Alter eingestürzt und lag offen. Plötzlich stieß durch die Öffnung der gewaltige Schädel einer abscheulichen Echsenkreatur. Schwarze Augen blickten wütend auf Gundaruk und Halbohr herab und gelbliche Reißzähne verbargen den tief-schwarzen Schlund der Kreatur. Mit ihren langen Krallen zog sie ihren Körper näher. Ihre grün-gelben Schuppen glänzten selbst in dem Zwielicht des vorherrschenden Regens. Das Maul der Kreatur öffnete sich und versuchte den Leib Gundaruks zu verschlingen. Der Gestank war betäubend, voll von Tod und Verwesung. Doch fast zeitgleich nutzen Halbohr und Gundaruk genau diesen Moment. Halbohr stieß mit seinem Doch in das Maul der Kreatur und die Klinge fand die weiche Stelle des Gehirns der Echse. Der Speer Gundaruks fand ebenfalls seinen Weg und schwarzes Blut sprudelte den beiden entgegen. Mit einem letzten Kreischen fiel die Kreatur in sich zusammen. Der leblose Leichnam rutschte an den Trümmern der gebrochenen Wand herunter. Das einstmals stolze Geschöpf, verschwand in die nasse, dunkle Tiefe des Burggrabens.​
 
Sitzung 24 - Das Tal hinter den Hügeln

Immer wieder peitschte der Regen auf sein durchnässtes Fell hinab. Doch der Jagdtrieb ließ kaum andere Gedanken und erst recht keine Pause zu. Er dachte nicht viel nach. Die menschlichen Erinnerungen kamen und gingen, wie der Geruch, der während der Verfolgung mal stärker und mal schwächer wurde. Der große Wolf trabte beharrlich durch das Unterholz; er verausgabte sich nicht, doch er durfte auch die Spur nicht verlieren. Hier und dort musste er Pfützen umkreisen oder einen reißenden Bach überspringen. Denn der anhaltende Regen hatte den Wald gezeichnet. Wasser waren angeschwollen, Pfützen zu Tümpeln geworden, Bäume umgestürzt und Fäulnis hatte sich ausgebreitet. An einigen Stellen drohte der Nebel, der die Hügel hinabsickerte, die Geruchsspur zu verwischen. Gundaruk wusste nicht, wie lange er Halbohr bereits gefolgt war. Der Regen hatte längst das dunkle Blut der Echsenkreatur abgewaschen, das ihn im letzten Kampf besudelt hatte. Er konnte sich verschwommen erinnern, dass Halbohr mit den Worten „Ich habe etwas gesehen. Folgt mir!“, plötzlich aus der Feste und in Richtung des umliegenden Waldes verschwunden war. Er war ihm gefolgt. Doch Halbohr war schneller gewesen. So hatte er sich in Tierform gewandelt und einen gewissen Abstand zum elfischen Söldner gewahrt. Die letzten Stunden war es dann fast kontinuierlich bergauf gegangen. Der Regen hatte langsam nachgelassen. Jetzt lichteten sich die Bäume und hier und dort ragten Felsen auf. Ein Wind war zu verspüren, der unangenehm an seinem nassen Fell zog. Gundaruk war sich zudem nicht mehr sicher, ob er den Geruch von Halbohr weiterhin erriechen konnte. Er begab sich in einen langsameren Trott, der plötzlich zu einem jähen Stillstand kam. Vor ihm ging es eine Felsklippe hinab. Doch darunter und dahinter konnte er weiter blicken. Unter dem Zwielicht des bleiernen Himmels sah er ein bewaldetes Tal vor ihm aufragen. Eingerahmt von Hügelketten führte es in die Ferne, in der er Felder und einen Fluss erahnen konnte. Gundaruk wusste, dass er in Wolfsform nicht über die Klippen klettern konnte. Er bereitete sich auf den erneuten Schmerz der Verwandlung vor und kauerte sich auf den Boden. Die Fähigkeit war schwer zu ertragen, doch er hatte keine andere Wahl. Nach nicht allzu langer Zeit waren graue Fellreste das Einzige, das der noble Wolf auf dem Felsen zurückließ. In die Lüfte empor flatterte eine übergroße Krähe, deren Schreie das unerforschte Tal erfüllten.

„Schau Bargh, ein Tal. Es ist riesig.“ Neire war in diesem Moment fasziniert von der immensen Größe der Oberwelt. Für eine Zeit konnte er seinen Blick der überwältigenden Weite nicht entziehen. Er kommandierte sein Pferd zu seinem Stillstand. „Ich weiß nicht wo wir sind Neire. Eine Gegend, in der ich nie war.“ Der Jüngling hörte die Worte Barghs gegen das Rauschen des Wasserfalls, der hinter ihnen aus der Klamm strömte und dann über die Felsen vor ihnen in die Tiefe stürzte. Sie waren der Eingebung von Neire gefolgt und hatten die Pferde vorsichtig durch die steile Klamm manövriert, die sich ihnen im Verlauf des Quellflusses offenbart hatte. Neire trug schon seit einiger Zeit seine Gesichtsmaske, die er noch aus Nebelheim hatte. Die Maske stellte eine Feuerschlange dar. Sie war sein erstes Werk als Kind der Flamme gewesen und mit kostbarem Gold und Edelsteinen verziert. Neire blickte durch die Augenschlitze zu Bargh und sah, dass der Krieger Jiarliraes immer wieder seine Maske betrachtete. Bargh hatte den roten Rubin, der sein rechtes Auge ersetzte, mit einer Binde verdeckt. Trotz seines jugendlichen Alters strahlte der von Brandnarben gezeichnete Anhänger der Chaosgöttin eine dunkle Zuversicht aus. Mit ihm bildete Bargh eine kleine verschworene Einheit, getrieben durch die Gier nach Geheimnissen und verankert im Glauben an die Schwertherrscherin. Neire nickte Bargh zu, bevor er zu ihm sprach. „Bargh, wir werden schon bald mit der Fertigung der Maske anfangen. Sie wird ein Kunstwerk werden; euren ruhmreichen Taten gerecht. Jiarlirae wird sie sicherlich gefallen. Ihre Gunst wird euch zu Teil werden.“ Neire sah wie Bargh lächelte und verträumt in die Landschaft blickte. Er nahm jetzt seine Maske ab und fügte hinzu. „Jedoch solltet ihr euch überlegen, welches Motiv ihr wählen wollt. Es ist eine wichtige Entscheidung und ihr sollt sie treffen.“ Erst jetzt sah Neire aus den Augenwinkeln die große, dunkle Krähe, die über ihnen ihre Kreise zog. Er nahm die Zügel in die Hand und steuerte sein Pferd vorsichtig vorwärts. „Kommt Bargh, wir werden sehen, wer der Herr dieses Landes ist.“

Bargh und Neire waren dem Fluss gefolgt. Langsam waren Fels und Wald einer Graslandschaft gewichen. Aus der Talsohle konnten sie Felder und Wiesen sehen. Kleine Punkte in der Ferne waren nun als Bauern zu erkennen, die anscheinend die Felder bewirtschafteten. Es war ein leichter Nieselregen zu spüren, doch das Tal war geschützt vor Wind. Es war zudem wärmer geworden. Sie waren schließlich auf eine Straße getroffen, die parallel zum Fluss lief. Das eintönige Geräusch der beschlagenen Hufe der Pferde verfolgte sie jetzt schon eine Zeit lang. Die Pflastersteine der Straße glänzten nass und abgewetzt. Als sie eine alte, steinerne Brücke erreichen, die den hier zu einem kleineren Strom angewachsenen Fluss überspannte, sah Neire ein weiteres Mal die dunkle Krähe, die in den letzten Stunden ihre Kreise über ihnen gezogen hatte. Das übernatürlich große Tier hatte sich auf einem vereinzelt aufragenden Steinpfeiler der Brücke niedergelassen und betrachtete sie mit funkelnd grünen Augen. Neire dachte nach. Die Krähe… sie begleitet uns schon einige Zeit. Als ob sie uns den Weg weisen wollte. Das muss ein Omen sein. Tatsächlich hatte er bereits gelesen über die Bedeutung des plötzlichen Erscheinens fremder Tiere. „Bargh, schaut. Die Krähe. Sie ist uns gefolgt. Ein Zeichen der Göttin. Das Glück ist auf unserer Seite.“ Neire sah, dass Bargh nickte und antwortete, während sie über die Brücke ritten. „Neire, ich habe nachgedacht. Die Maske soll einen Drachen darstellen, grün und voller Dunkelheit schimmernd.“ Neire strich sein nasses gold-blondes Haar zurück und lächelte. „So soll es sein Bargh. Wir haben die Schuppen und den Zahn der Kreatur, die von euch ermordet wurde. Doch wir benötigen Smaragde. Dann können wir das Werk beginnen.“ So setzten sie ihren Weg weiter fort. Als sie an eine Weggabelung kamen, blickte Neire auf. Tatsächlich sah er die Krähe auf der linken Seite kreisen und so wählten sie diesen Weg. Leise rezitierten sie die alten Gebete aus Nebelheim. Neire hatte begonnen Bargh die Sprache der Yeer’Yuen’Ti zu lehren. Bargh sprach bereits einige Sätze. Nur an der Intonation musste er noch feilen. Die Aussprache bereitete ihm Probleme – trotz seiner bereits gespaltenen Zunge.

Ganz langsam, aber stetig waren die beiden Gestalten nähergekommen. Sie kamen Neire und Bargh entgegen. Der ältere der beiden Männer war in ein rotes Gewand gehüllt und zog einen kleinen Karren. Sein einst volles schwarzes Haar zeigte hier und dort graue Stellen. Trotz des verhangenen Himmels strömte ihm der Schweiß in Strömen vom Kopf. Der jüngere Mann war von muskulöser Statur, in ein Wams aus gehärtetem Leder gekleidet und trug eine Kriegspicke. Sein Schädel war kahlrasiert - sein Blick gelangweilt, doch seine Augen funkelten wachsam. Als Bargh und Neire die beiden passierten, nickten die Fremden ihnen unterwürfig zu. Ihr Gesichtsausdruck ließ eine Mischung aus Neugier und Ehrfurcht erahnen. Neire kommandierte sein Pferd zu einem Stillstand, blickte nicht wirklich hinab und erhob die Stimme. „Mensch… was zieht ihr dieses Gefährt umher? Ist das ein Spiel?“ Für einen kurzen Moment herrschte eine gespenstige Stille. Dann antwortete der ältere Mann auf die gezischelten Worte fremder Intonation. „Mein junger Herr… wir spielen das Spiel der Münze, wenn ihr so wollt.“ Er lächelte freundlich während er sprach. Auch der Söldner mit der Kriegspicke fing an zu grinsen. „Es sind Händler Neire. Sie verkaufen Waren gegen Münzen.“ Neire sah, dass Bargh die beiden grimmig anblickte, während er ihm den Witz erläuterte. Neire musste grinsen, doch der ältere Mann erhob erneut die Stimme. „Ihr seid wohl nicht von hier, Jungherr, kommt ihr vielleicht aus den Küstenlanden?“ Neire wägte kurz seine Antwort ab. „Wir sind aus Fürstenbad. Sagt mir, wohin führt diese Straße?“ „Fürstenbad ist mir nicht bekannt. Diese Straße führt nach Kusnir, Jungherr. Die Ortschaft ist nicht mehr weit von hier.“ Neire dachte nach. Er hatte tatsächlich in alten Chroniken von Nebelheim bereits von Kusnir gehört. Die Ortschaft war Teil des einst wohlhabenden Herzogtums Berghof. Berghof, hinter einer Wetterscheide liegend, war als fruchtbares Tal beschrieben, das sich mehrere Tagesreisen weit erstreckte. Es war von Mittelgebirgen und Bergketten umgeben, die dem Talkessel eigene Wetterbedingungen bescherten. In längst vergangenen Zeiten hatte es einen Konflikt mit den im Süden gelegenen Küstenlanden gegeben. Ein Bergpass, in den Chroniken als Adlerweg benannt, war besonders umkämpft gewesen. Doch es hatte keinen Gewinner gegeben. Der Konflikt war schließlich zu einem kalten Krieg geworden und die Küstenlande waren verfallen. Berghof war zwar besser weggekommen, doch auch hier war das Herrschergeschlecht zugrunde gegangen. Zudem war das alte Herzogtum von Auswanderung betroffen. Neire wurde von einem Krähen jäh aus den Gedanken gerissen. Es sah, dass sich das dunkle, große Tier, das sie jetzt schon einige Zeit verfolgte, auf den Beuteln des Karrens niedergelassen hatte. Hektisch beäugten die fremden Männer das Tier. „Es ist ein Omen. Das Erscheinen einer schwarzen Krähe verspricht euch Glück“, sprach Neire zu den Fremden, doch er sah, dass der Söldner die Krähe mit seiner Kriegspicke versuchte hin fortzuscheuchen. Tatsächlich erhob sich das Tier mit einem weiteren Schrei in die Lüfte und ließ sich jetzt auf dem Hals von Neires grasenden Pferdes nieder. Augenblicklich bemerkte Neire sein Reittier in Panik verfallen. Mit einem Wiehern begann es zu steigen. Neire klammerte sich im Sattel fest. Wütend auf den Söldner versuchte er das Pferd in Richtung des Wagens zu lenken. Er sah, wie der Söldner auswich und sich ins Gras warf. Die Krähe war bereits in die Luft gestiegen, als Neire das Pferd unter Kontrolle brachte. „Achtet auf euer Tier, Jungherr!“ Die Stimme des jüngeren Mannes war eindringlich und er hielt die Kriegspicke vor sich. Neire blickte arrogant auf ihn hinab, während er mit einem Lächeln im Gesicht antwortete. „Ihr solltet die Omen der Götter achten, Mensch! Die Krähe kommt aus der Dunkelheit und fliegt über das Feuer hinfort. Sie ist ein Bote von Heria Maki, der Göttin des reinigenden Feuers.“ Neire sah, dass Bargh beim Namen von Heria Maki spöttisch zu grinsen begann. So betrachteten sie wortlos die beiden Knechte, die vorsichtig an ihnen vorbeizogen.

Die Krähe hatte sie bis nach Kusnir verfolgt. Dort waren sie die Hauptstraße entlanggeritten und hatten nicht mehr nach dem Vogel Ausschau gehalten. Bei ihrem Ritt durch Kusnir hatten Neire und Bargh dann wohl für genügend Gerüchte und Gespräche kommender Tage gesorgt. Spielende Kinder waren ihnen gefolgt und die bäuerliche, größtenteils übergewichtige Bevölkerung hatte sie voll Staunen und Ehrfurcht betrachtet. Schließlich hatten sie am Ende der Straße und in der Nähe des Sees, an dem Kusnir lag, das örtliche Gasthaus gefunden und ihre Pferde in einem offenen, überdachten Stall untergebracht. Für eine kurze Zeit hatte Neire versucht die seltsamen Runen zu entziffern, die mit rötlicher Farbe in das Gebälk des Stalls gepinselt waren. Doch sie waren arkaner Natur und er konnte sie nicht deuten. So waren sie schließlich in die Schankstube eingetreten; Bargh, schwer beladen mit den Satteltaschen, voran. Aus dem Inneren strömte ihnen ein angenehmer Geruch von gebratenem Fleisch und Bier entgegen. Der abgedunkelte Raum hatte die Größe einer kleinen Halle und war von Öllampen erhellt. Vier große hölzerne Pfeiler trugen die Decke des Raumes. Hinter den Tischen und Bänken, von denen die meisten leer waren, war der flackernde Schein eines Kaminfeuers zu erkennen. Dort stand ein dicker Mann mit einer Glatze, gekleidet in einen fettigen Lederschurz. Er schien nicht Notiz zu nehmen von Neire und Bargh, drehte er doch einen gewaltigen Spieß, der den Körper eines ganzen Rindes trug. Immer wieder griff der Mann in ein Gefäß und zerbröselte ein Gewürz über minutiös ausgesuchte Stellen des Rinds. An einem weiteren Tisch konnten Neire und Bargh eine Gruppe von drei Bauern verschiedenen Alters erkennen, deren angeregtes Gespräch nach ihrem Eintreten plötzlich verstummt war. In einer Ecke saß zudem eine einzelne Gestalt, die in Gedanken versunken einen Humpen Bier trank. Dieser Mann war älter, von muskulöser Statur und gekleidet in ein Lederwams. Eine Axt steckte in seinem breiten Ledergürtel. Neire, der sich zuerst hinter Bargh verborgen hatte, trat jetzt hervor und genoss die von Ehrfurcht und Neugier erfüllten Blicke der Gruppe von Bauern. Sie suchten sich einen Platz in der Nähe der Flammen des Kamins. Als der Mann am Spieß sie nicht beachtete blickte Neire in das Feuer und zischelte in dessen Richtung. „Mensch… bringt uns zwei Bier und eine Mahlzeit von dem Fleisch.“ Er sah, dass der Spießdreher aufschreckte und einen kurzen Moment in seine Augen blickte, in denen das rötliche Feuer schimmerte. „Oh, entschuldigt, meine Herren. Natürlich bringe ich euch das Bier und eine Mahlzeit. Äh… das mit den Kupferstücken regeln wir später.“ In diesem Moment krachte der gepanzerte Handschuh von Bargh auf den Tisch. „Und bringt mir die doppelte Portion, verdammt!“ Schon bald wurde ihnen das Bier gebracht und sie tranken in gierigen Zügen. Neire betrachtete interessiert den Raum und fragte sich, ob alle Menschen der Oberwelt ein solch erbärmliches Leben fristeten. Als der Wirt mit drei großen Tellern gebratenem Fleisch zu ihnen kam, zwei davon für Bargh, zeigte Neire auf den brutzelnden Körper des Rinds. „Mensch… was ist das für ein Tier?“ Doch noch bevor der Wirt antworten konnte, flog mit einem Krachen die Eingangstüre des Raumes auf. Unter der Türe duckte sich die riesenhafte Gestalt von Gundaruk hindurch. Hier und dort war er immer noch gezeichnet von tiefen Wunden des letzten Kampfes in der verlassenen Feste. Er steuerte auf den Tisch von Bargh und Neire zu und baute sich vor ihnen auf. „Gundaruk, es freut mich euch zu sehen. Setzt euch zu uns und trinkt so viel ihr könnt. Trinkt mit uns auf die glühende Nacht der ewigen Stadt, wo Feuer, Dunkelheit und Stein eins ist“, sprach Neire und lächelte ihm zu. Gundaruk zog seine Luchsfellmütze zurück, erwiderte das Lächeln und ließ sich niedersinken. „Neire… ich sehe ihr seid so schön… äh, ich meine natürlich so eitel, wie je zuvor. Bargh… ihr solltet vielleicht an eurem Haarschnitt arbeiten!“​
 
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Sitzung 25 - Von farbigen Pilzen und Mutproben (Teil I)

Der große Schankraum war eingehüllt in eine schummrige Atmosphäre. Durch die geschlossenen Fensterläden drangen hier und dort vereinzelte Lichtstrahlen. Erhellt wurde der Raum jedoch hauptsächlich von milchigen Öllampen. Bargh, Gundaruk und Neire saßen an einem der Tische, nahe des großen Kaminfeuers. Auch Gundaruk hatte mittlerweile sein Essen erhalten und so widmeten sie sich genüsslich dem knusprigen Fleisch. Bargh hatte bereits zwei große Humpen des faden Biers getrunken und einen seiner beiden Teller hastig geleert. Jetzt ließ er sich etwas zurücksinken, verlangsamte seine Ess- und Trinkgeschwindigkeit und ließ ein lautstarkes Rülpsen von sich. Während Bargh sich nicht besonders für die weiteren Gäste zu interessieren schien, blickte sich Neire immer wieder im Raum um und betrachtete die Gesellschaft der drei Bauern sowie den vereinzelt sitzenden älteren Mann. Neire fragte sich, ob alle Bewohner der Oberwelt ein solch tristes und trostloses Leben fristeten. Ob ihre einfältigen Geister nicht in der Lage waren von Größerem zu träumen. Als Gundaruk den fettleibigen Wirt ein weiteres Mal zu ihrem Tisch rief, erhob er zischelnd seine Stimme. „Mensch… seid ihr alle eines kargen Geistes Kinder? Seid ihr Sklaven in diesem Lande?“ Der Wirt, der die vier randvoll gefüllte Bierhumpen auf ihren Tisch gestellt hatte, wollte sich bereits wieder seinem Spieß widmen. Er zuckte auf bei Neires Frage und blickte unterwürfig zu Boden - als wollte er nach einer Antwort suchen. Eine Antwort auf zwei Fragen, von denen er mindestens eine nicht richtig verstand. „Junger Herr, Sklaven sagt ihr? … Nein Sklaven gibt es hier nicht… ähh… vielleicht in den Küstenlanden. Dort gibt es sicher Sklaven. In den Küstenlanden… Sklaven, ja.“ Neire war bereits gelangweilt während er sprach und musste grinsen über die armselige Kreatur, doch Bargh erhob seine tiefe Stimme. „Dann trinken wir auf die freien Menschen von Kusnir, freie Menschen wahrlich…“ Seine Stimme erfüllte den Raum und klang seinem Trinkspruch genehm, doch Neire ahnte den Spott, als er in das Gesicht von Bargh blickte. Weiter kam der Krieger Jiarliraes allerdings nicht. Ein Bauer mittleren Alters hatte sich bereits erhoben, forderte seine beiden Kameraden auf es ihm gleichzutun und erwiderte Barghs Trinkgruß: „Auf die freien Menschen von Kusnir, Freunde! Gesellt euch gerne zu uns, wir machen Platz und die nächste Runde geht auf uns.“

Neire betrachte die drei Bauern und den in sich gesunkenen älteren Mann. Sie hatten ihre Tische am Feuer des Kamins zusammengestellt und der Wirt hatte eine weitere Runde des faden Bieres gebracht. Neire hatte sich bis jetzt zurückgehalten und die vier Fremden mit einer Mischung aus Neugier und latenter Arroganz gemustert. Der mittelalte Bauer hatte sich erneut gehoben und leicht verbeugt, bevor er zu sprechen begann. „Gestattet mir uns euch vorzustellen, edle Herren. Mein Name ist Siguard Einhand, das ist mein jüngerer Bruder Lorkan und der ältere hier heißt Lorn… Ach ja, dann ist da noch der, der das miesepetrige Gesicht zieht. Er ist unser Dorfvorsteher, Kurst.“ Tatsächlich nickte der ältere, korpulente Mann mit dem speckigen Lederwams ihnen zu, als er seinen Namen, Kurst, hörte. Für einen kurzen Moment lang herrschte Schweigen, dann war die zischende Stimme von Neire zu hören. „Es wäre unhöflich, wenn wir uns nicht vorstellen würden… Mensch. Das ist Gundaruk. Er war tot, doch er ist aus dem Grab in das Reich der Lebenden zurückgekehrt. Hier sitzt Bargh, der Drachentöter. Mein Name ist Neire.“ Die Bauern hatten sie - bis auf Kurst - mit bewundernden Augen angestarrt. Sie schienen auf etwas zu warten, als Neire sich zuletzt vorstellte und so fuhr er fort. „Ich diene Heria Maki, sie ist Schatten und bringt das Feuer. Sie belohnt die Rechtschaffenen und bestraft die Frevler.“ Tatsächlich sah Neire, dass Kurst seinen bereits wieder hinabgesunkenen Kopf ein weiteres Mal erhob und irgendetwas in seinen Augen aufblitzte, als er den Namen Heria Maki und die Rechtschaffenen hörte. „Trinken wir auf Heria Maki!“ sprach Bargh, während er versuchte ein Grinsen zu verbergen. Siguard, bereits deutlich lallend, war der erste der reagierte. „Auf Herio Mako! Wir trinken auf sie.“ Jetzt musste auch Neire lachen. Vielleicht ahnen sie es und spüren die Schwäche von Heria Maki. Würden sie so den Namen der Schwertherrscherin in den Mund nehmen, würde ich sie auf diesem Spieß rösten. Neire malte bereits das Bild in seinen Gedanken, wie die Bauern dort bei lebendigem Leibe brennen würden. Doch er mochte sie auch irgendwie. Er mochte ihre trunkene Einfalt. Und sie hatten bereits über Heria Maki gespottet, indem sie ihren Namen fehlerhaft gelallt hatten. Während er noch nachdachte, sprach Siguard bereits weiter. „Ich habe auch große Taten vollbracht, müsset ihr wissen, edle Herren. Ich habe die blauen Teufel gejagt. Bis in ihren Bau. Gejagt und getötet habe ich sie.“ Neire hatte in alten Schriften von blauen Teufeln gehört. Niederträchtige Wesen mit bläulich schimmernder Haut, die in Hügeln und Mittelgebirgen lebten. Sie waren böse und hinterlistig und so glaubte er den Worten von Siguard nicht ganz. „Es ist schon eine Schande, dass jetzt der Bau wieder bewohnt ist.“ Beide Bauern nickten, während Siguard fortfuhr. „Ein übles Wesen hat sich dort eingenistet. Es hat bereits unser Dorf überfallen. Sogar eine ganze Familie wurde getötet. Sogar Frauen und Kinder. Könnt ihr das glauben? Sogar Kinder.“ „Es ist ein Skulk, der in unserem Land sein Unwesen treibt. Diesem Unwesen muss ein Ende bereitet werden. Doch die Söldner, die Krieger sind alle hinfort. Es ist ein Fluch.“ Kurst, der seine tiefe, klare Stimme erhoben hatte, ließ jetzt wieder den Kopf sinken und grübelte weiter. „Wie hoch sind eure Verluste, Kurst. Könnt ihr nicht die Natur um Hilfe bitten?“ Gundaruk, hatte sein Luchsfell von seinem Kopf zurückgezogen und seinen haarlosen großen Schädel offenbart. Er blickte auf Kurst hinab und seine Worte waren fast fordernd. „Wir haben viele Tote zu beklagen. Ich muss gestehen, ich habe sie nicht gezählt. Doch die Natur? Früher gab dort etwas, wie ein Schimmer über dem See, den Feldern und den Hainen… Ehlonna. Sie beschützte das Land und gab uns reiche Ernten. Doch sie ist fort. Nun müssen wir selber zurechtkommen. Es braucht Ritter oder rechtschaffene Krieger hier. Vielleicht könnt ihr uns helfen, ihr dient der rechtschaffenen Göttin des Feuers, ja?“ Neire sah die Verzweiflung im Blick des alten Mannes, doch das erregte kein Mitleid in ihm. Es waren eher die Geheimnisse des Skulks, die ihn reizten. Von dieser Kreatur hatte er nämlich noch nichts gehört. „Wir sind auf der Suche nach Geheimnissen, Mensch. Ich habe die roten, arkanen Runen gesehen, die in eurem Dorf im Holz zu sehen sind,“ antwortete Neire, dessen seltsamer Singsang und Akzentuierung trunkene Blicke auf sich zog. Auch konnte man immer wieder seine gespaltene Zunge sehen, wenn er sie zwischen den Worten über seine weiß glänzenden Zähne gleiten ließ. „Dann könnt ihr also die Zeichen lesen? Es war der Skulk, der sie mit dem Blut seiner Opfer dort hinterließ.“ Die Worte von Kurst, der seinen lethargischen Zustand längst verlassen hatte, klangen verzweifelt und eindringlich. Neire bemerkte, dass der Dorfvorsteher zudem begann zügiger an seinem Bier zu trinken. „Wir können euch helfen, Mensch. Doch Heria Maki benötigt ein Brandopfer. Ihr solltet uns nach getaner Aufgabe belohnen und wir werden dieses Brandopfer verrichten. Grüne Edelsteine, wie Smaragde oder Jade, nehmen wir gerne an.“ Kurst dachte einen Moment nach. „Grüne Edelsteine haben wir leider nicht. Doch wir haben Edelsteine. Ich kann euch aus dem Familienerbe bezahlen. Rubine und sogar ein paar Diamanten.“ Neire blickte zu Bargh und sah, dass sein Begleiter nickte. Auch Gundaruk schien nichts gegen das Vorhaben einzuwenden. „Dann soll es so sein, Mensch. Ihr werdet uns morgen den Weg weisen und wir werden uns der Sache annehmen. Doch lasst uns trinken jetzt! Wirt, bringt uns eine Fiedel oder eine Harfe. Wir wollten singen und feiern!“ Die Bauern begannen zu jubeln und auch Kurst leerte seinen Humpen in einem Zug. Als der Wirt mit neuen Bierhumpen zum Tisch kam und den Besitz einer Fiedel oder Harfe verneinte, hatte Neire bereits mehrere kleine Stücke eines gelblichen Pilzes auf den Tisch fallen lassen. „Und lasst uns das fade Gesöff mit diesem Gewürzpilz aufbessern. Diese Pilze verleihen einem Getränk das gewisse Etwas.“ Zu seiner Überraschung sah Neire, dass Lorkan, der jüngste der Bauern, bereits einen Pilz verschlungen hatte und den Humpen zu mehreren gierigen Schlücken ansetzte. Nur Siguard schien ablehnend gegenüber dem Vorschlag zu sein. „Kommt Siguard oder habt ihr etwa Angst. Selbst euer Dorfältester hier will mit uns anstoßen.“ Tatsächlich nahm auch Gundaruk jetzt einen Pilz, stand auf und blickte auf den zögerlichen Bauern hinab. „Nun gut, dann lasst uns trinken!“ Neire beobachtete belustigt, wie sie gierig das Bier tranken und bereits ein neues forderten. Er würde ihnen schon zeigen wie man richtige Feste feiert. Nach einiger Zeit des trunkenen Austausches – Lorkan konnte fast nicht mehr reden und schwankte im Sitzen – erhob Neire wieder seine Stimme. „Mensch, ihr sagtet ihr habet die blauen Teufel bekämpft. Ihr müsst wahrlich mutig sein. Aber so mutig, dass ihr euch traut ein Spiel mit mir zu spielen?“ Neire hatte auf Siguard gezeigt, bei dem der Alkohol bereits deutliche Wirkung zeigte. „Ein Spiel meint ihr, eh? Natürlich spiele ich ein Spiel mit euch.“ Neire fing an zu grinsen und strich sich seine gold-blonden Locken zurück. Er zog zwei Platinstücke nebelheimer Prägung hervor und legte sie auf den Tisch. Eine leichte Wehmut befiel ihn, als er das Wappen von Nebelheim auf den Münzen glitzern sah; den Chaosstern, der dort in die Andeutung der Menschenschlange des wahren Blutes eingeflochten war. „Es ist ein Spiel zu Ehren der Göttin, Heria Maki. Wenn ihr die Münze länger in der Hand halten könnt, seid ihr der Sieger und dürft die beiden Stücke behalten. Vielmehr noch bestätigt die Göttin eure Rechtschaffenheit mit der Reinheit des Feuers.“ Sie sahen alle, dass Siguard seine Faust auf den Tisch knallen ließ. „Ist das das Spiel? Natürlich werde ich gewinnen.“ Noch während er lachte stand Neire auf, nahm die Münzen und schritt zum Feuer. Er blickte dabei zu Bargh und sah, dass der Krieger ihm zunickte. Neire nahm eine Ascheschaufel und stieß die beiden Platinmünzen vorsichtig unter die Glut der dicken Holzscheite. Er trat zurück und blieb hinter den Tischen stehen. „Erhebet euch für das Spiel, Menschen. Wir werden in Kürze beginnen.“ Tatsächlich erhoben sich die Bauern. Bargh, der jetzt eine Hand auf sein Schwert gelegt hatte stellte sich an den Kamin. Die Flammen schimmerten auf seinem silbernen Plattenpanzer. Neire spürte, dass der Pilz jetzt seine volle Wirkung entfaltete. Wärme raste durch seine Arme und verstärkte die Wirkung des Rausches. Doch nicht in geistes-vernebelnder Form. Die Farben um ihn herum waren nicht mehr so trist. Das Feuer glänzte wie tanzende Schatten und transparente Arme aus Flammen. Die vier Säulen des Raumes hörte er ächzen, die hölzernen Wände flüstern. Auch die Bauern waren wie in einem tiefen Rausch. Kurst torkelte schwankend hin und her und rief abgehackte Worte. Lorkan war bereits an einem Tisch zusammengesunken und Lorn, der sich kaum noch auf den Beinen halten konnte, sprach Worte des Abschiedes und verschwand. Neire spürte, dass sein Geist sich langsam öffnete. Er trat an das Feuer und beförderte die Platinstücke auf die Schaufel. Sie funkelten glühend wie kleine Sterne und zogen im Rausch lange feurige Fäden mit sich mit. Neire schwankte zu Siguard hinüber und reichte ihm die Schaufel. Nur aus den Augenwinkeln sah er, dass Kurst, in einem Anfall von blindem Wahnsinn, nach einer der brennenden Münzen greifen wolle. Doch er zog die Schaufel rechtzeitig zurück und der alte Mann torkelte ins Leere. Als Siguard zögerte sprach Neire. „Stimmen eure Geschichten, ist euer Heldenmut wahr? Oder seid ihr doch ein Feigling? Ein Feigling, der selbst weit unter eurem Dorfältesten steht.“ Neire deutete dabei in Richtung von Kurst, der in ein paar Stühle gefallen war und gerade versuchte sich aufzurichten. Die Blicke lagen jetzt auf Siguard. Gundaruk stand hinter ihm und Bargh rückte bedrohlich näher. Noch immer zögernd begann der Bauer nach der Münze zu greifen. Auch Neire zog jetzt seine linke, grausam verbrannte Hand hervor. Im letzten Moment realisierte Siguard die Brandwunden an Neires Arm. Doch es war zu spät. Er hatte das glühende Metall bereits ergriffen und es brannte sich zischend in seinen Handballen hinein. Einen Moment lang versuchte er die Münze zu halten, doch der Schmerz war zu groß. Er ließ sie fallen und brach auf die Knie. Neire hielt seine Münze hoch. Sie brannte in seinem Fleisch und er genoss den Schmerz. Er blickte in die Flammen und suchte nach Zeichen. Seine Augen funkelten wie brodelndes, dunkles Magma, als er vor dem Kamin zu tanzen begann. Er sang den Choral einer fremden zischelnden Sprache und Bargh stimmte ein. Der Schankraum um ihn herum versank in einem feurigen Traum aus Licht und Schatten. Zeichen im Feuer sah er nicht, doch er dachte an die Münze und das Wappen von Nebelheim, dass der Bauer nun für immer mit sich herumtragen würde. Eine innere Freude erfüllte ihn als er den Gedanken sponn. Er musste sein eigenes Symbol weben. Es musste die Runen des Chaos tragen und die Dualität weisen. Er dachte an Schatten und Feuer.​
 
Sitzung 25 - Von farbigen Pilzen und Mutproben (Teil II)

Als Gundaruk wach wurde hämmerte sein Kopf. Sie hatten zu dritt in einer kleinen Dachkammer übernachtet, die der Wirt mit improvisierten Strohlagern für sie hergerichtet hatte. Er erinnerte sich nur noch schemenhaft an den letzten Abend. Die Bauern waren einer nach dem anderen im Suff zusammengebrochen und hatten schließlich schlafend auf dem Boden des Schankraumes gelegen. Als Neire seinen Tanz beendet hatte, hatten sie nach dem Nachtlager verlangt und der Wirt hatte den Raum verlassen. Neire war zu den Bauern getreten und hatte Bargh aufgefordert ihm zu helfen sie zu entkleiden. Als die Bauern schließlich nackt dort lagen, hatte Neire sich ein Stück erkaltete Kohle geholt. Er hatte begonnen obszöne Zeichnungen auf die Körper zu malen, die andeuteten, dass die Bauern sich gegenseitig verspottet hätten. Bargh und er hatten immer wieder gelacht und weiter Bier getrunken. Auch Gundaruk hatte die Szene belustigt. Er erinnerte sich an vergangene Abende im Krieg. Als sie nach einer siegreichen Schlacht in den immer noch warmen Ruinen einer abgebrannten Burg gezecht hatten. Die Menschen waren immer zuerst umgefallen, während er der letzte gewesen war. Ja, der Krieg. Er war grausam gewesen, doch er hatte die Abende ausschweifender, die Freundschaften und Gefühle intensiver gemacht. Schließlich war der Wirt zurückgekehrt und hatte gefragt was passiert war. Neire hatte geantwortet. Er hatte erklärt, dass die Menschen die Fassung verloren hätten. Dass ihnen der Alkohol zu Kopf gestiegen sei. So hatte schließlich er, Gundaruk, die nackten Leiber vor die Türe des Gasthauses geschleift. Das ganze Dorf sollte schließlich sehen, was den Zechern widerfahren war. Tatsächlich hatte er irgendwann im Halbschlaf das Lachen und das Applaudieren einer Menge gehört, die sich anscheinend vor dem Gasthaus gesammelt hatte. Gundaruk richtete sich auf und kleidete sich an. Die Luft in der engen Kammer war schlecht und er erinnerte sich schwach an das Ritual der Fackeln, dass das Kind der Flamme am letzten Abend noch durchgeführt hatte. Er raffte seine Sachen zusammen und ging durch das Gasthaus ins Freie. Von den Bauern war keine Spur mehr zu sehen. Die Sonne war bereits aufgestiegen und brach hier und dort durch die Wolken hindurch. Er vernahm den Geruch des Sees und der Felder und zog tief die Luft ein. Er spürte noch immer den Alkohlrausch und die Wirkung des bunten Vierlings. Die Farben waren so intensiv, das Sonnenlicht so lieblich. Es war, als ob seine Sinne geschärft, als ob er immer noch in Tierform verwandelt wäre. Er konnte sogar den Duft von Gras und Kräutern riechen, die an den Rändern der Straße wuchsen. Gundaruk fasste den Gedanken und begann zu suchen. Hier und dort pflückte er Kräuter, als er durch das Dorf schritt. Nach einiger Zeit kam er zum Gasthaus zurück, mit einem Bündel von Pflanzen. Er bemerkte, dass dort Bargh und Neire zu sehen waren, die gerade ihre Pferde sattelten. „Ah, Gundaruk. Da seid ihr.“ Neire winkte ihn heran und er bückte sich unter das Dach des Stalls. Neire trat jetzt näher und begann zu flüstern. „Gundaruk, ich habe die Runen Kraft meiner Göttin untersucht. Eine schwache Magie, doch ich konnte die Bedeutung erahnen. Es ist wie eine Botschaft, wie ein Hilferuf.“ Gundaruk sah Falten auf Neires gerader Stirn. „Die Worte befreit mich und Träger konnte ich entziffern. Vielleicht ist von einem alten Gegenstand die Sprache. Vielleicht von einem alten Fluch, um dessen Träger es hier geht.“ Gundaruk nickte und dachte nach. Auch er hatte von alten Geschichten gehört. Legendäre Gegenstände die in vergangen Zeiten erschaffen wurden. Oftmals hatten sie ihre Träger ins Verderben gestürzt. Geschichten rankten sich nicht nur um ihre Erschaffung, sondern auch um ihre Vernichtung. „Lasst uns erst einmal zu Kurst gehen und ihn nach dem Weg fragen.“ Gundaruk deutete zudem auf die Gräser, die er in beiden Händen trug. „Ich habe außerdem etwas vorbereitet, um ihnen zu helfen. Vielleicht ist ja doch noch ein Teil von Ehlonna hier, der mir antworten wird.“ Er sah jedoch, dass ihn Neire angewidert anschaute, als er den Namen erwähnte. „Die Götter sind schwach Gundaruk… nur die Schwertherrscherin, nur Jiarlirae…“ Gundaruk zuckte mit den Schultern. Er musste es versuchen. Was in der Zeit passiert war, seit er in diesem Grab gelegen hatte? Er musste es selbst herausfinden. Nach kurzer Zeit kamen sie über den Lehmweg zum Steinhaus des Dorfvorstehers. Es war neben dem Gasthaus das zweite Haus aus Stein, dass es in Kusnir gab. Bargh trat hervor und schlug mit seinem gepanzerten Handschuh gegen die hölzerne Eingangstüre. Doch das dumpfe Donnern provozierte keine Reaktion. Ein weiteres Mal, jetzt noch lauter dröhnte der Schlag. „Kurst, alter Säufer! Kommt hervor.“ Nach kurzer Zeit waren tatsächlich Geräusche zu hören und ins Sonnenlicht trat der gezeichnete alte Mann. Noch immer waren die verwischten Symbole der Kohle an seinem von Schlamm besudelten Oberkörper zu sehen. Zudem konnte Kurst anscheinend kaum seinen Hals bewegen. „Was wollt ihr?“ ächzte er mit heiserer Stimme. „Kurst. Weißt uns den Weg zum Bau. Wir werden heute aufbrechen,“ sprach Neire. Sie lauschten den abgehackten Worten des Dorfvorstehers. Als er seine Beschreibung beendete, trat Gundaruk hervor. „Kurst, ich habe Kräuter und Pflanzen gesammelt und werde versuchen eure Göttin anzurufen. Vielleicht wird Ehlonna euch helfen und weitere reiche Ernten schenken.“ Kurst starrte ihn einige Zeit an. „Tut was ihr nicht lassen könnt, Gundaruk. Ich weiß, ihr meint es gut mit uns, doch Hoffnung habe ich nicht.“ Damit trat der Mann in die Schatten zurück uns ließ die Türe hinter sich zufallen. Gundaruk begann mit seinem Speer Kreise in das Gras des kleinen Platzes zu zeichnen. Er verstreute die Kräuter und murmelte die Gebete zu Ehlonna. Neire und Bargh beobachteten ihn wortlos vom Rücken ihrer Pferde. Gundaruk beendete das Ritual, doch er spürte keine Antwort, keine göttliche Resonanz. Er war sich auch nicht sicher ob der Zauber gewirkt hatte. So brachen sie auf und folgten der Beschreibung. Gundaruk ging neben den beiden Pferden her. Nach einiger Zeit gelangten sie an einen Fluss und dann in einen Wald, in dem das Wasser schneller dahinschoß. Das Gurgeln erfüllte die von Vogelstimmen erfüllte Umgebung. Die Sonne stand mittlerweile hoch am bewölkten Himmel und vertrieb langsam die Nässe des gefallenen Regens. Gundaruk sah, dass Neire immer wieder den Wald und die Sonne betrachtete. „Neire, der Wald. Er scheint euch zu gefallen.“ Bemerkte Gundaruk und deutete mit seinem Speer in das schattige Unterholz. „Die Oberwelt ist groß und der Wald ist voller Schatten. Er scheint die Sonne zu verschlucken.“ Gundaruk nickte und antwortete bedacht. „Die Sonne und der Wald. Die Sonne dringt nicht tief hinein, doch der Wald benötigt die Sonne. Fast wie euer Dualismus von Schatten und Feuer. Vielleicht kann ich Ehlonna zurückbringen, vielleicht hat sie dieses Land nur vergessen.“ Gundaruk sah, dass sich die Miene Neires augenblicklich verfinsterte. Die Neugier und Freude in seinem Gesicht waren hinfort. „Ah, dieser Name einer schwachen Kreatur. Vielleicht solltet ihr ein paar Menschen opfern, den Boden mit ihrem Blut tränken und sie dann essen. Vielleicht ist es das, was Ehlonna braucht.“ Gundaruk blickte ausdruckslos in das spottende Gesicht Neires. Es überkam ihn ein seltsames Gefühl, wie ein dunkler Bote. Ein Gefühl, dass er nicht deuten konnte, dass ihn abstieß, aber auch seine Neugier weckte.​
 
Sitzung 26 - Der Bau

Durch die Baumwipfel drangen Sonnenstrahlen des von Quellwolken überzogenen Himmels. Die Luft war klar und es roch nach nassem Wald. Um sie herum war das Gluckern des Bachlaufs zu hören, der den dichten Wald wie eine Schneise durchzog. Sie hatten mit den Pferden am kleinen Fluss haltgemacht. Die Tiere grasten jetzt dort und tranken das klare Wasser, das aus den nahen bewaldeten Bergen stammen musste. Eine Zeitlang waren sie dem Fluss in die Richtung der Hügel gefolgt, deren rollende Höhen sie immer wieder dunkel über dem Wald hatten aufragen sehen können. Neire zog die Luft ein und betrachte vom Rücken seines Pferdes seine Mitstreiter. Er genoss jeden Moment in der ihm fremden Oberwelt, in der er sich von Tag zu Tag sicherer fühlte. Ab und an war ein Vogel im Unterholz zu hören, mal konnte er Eichhörnchen sehen, die von Baum zu Baum sprangen. Neire blickte einen kurzen Moment zu Bargh. Der Alkohol und die Pilze der gestrigen Nacht hatten das Gesicht des jungen Krieger Jiarliraes gezeichnet. Das linke Auge, das Bargh nicht mit der Binde überdeckt hatte, wirkte glasig. Schweißperlen hatten sich auf seiner Stirn und auf seinem von Brandnarben bedeckten, haarlosen Schädel gesammelt. Als ob Bargh seine Gedanken erahnen konnte, drehte sich der einstige Paladin auf seinem Reittier sitzend um und griff in eine der Satteltaschen. Bargh förderte einen von den Weinschläuchen hervor, die sie aus der verlassenen Feste mitgenommen hatten. „Neire, nehmt einen Schluck. Der Wein wird unsere Laune steigen lassen.“ Neire beugte sich zu Bargh hinüber und nahm wortlos den Schlauch entgegen. Auch er spürte eine Leere in seinem Kopf, die immer wieder plagende Gedanken hervorrief. Er trank mehrere Schlücke des würzigen Tranks bevor er in Richtung Gundaruk nickte. „Gundaruk, was ist mit euch? Probiert den Wein aus der verlassenen Feste, er ist wirklich vorzüglich.“ Neire wollte zu Gundaruk hinabreichen, doch der große Krieger verneinte kopfschüttelnd. „Wir sollten uns auf unsere Aufgabe konzentrieren. Ich will klar denken können, um meine Umwelt richtig wahrzunehmen. Ich will auf alle möglichen Ereignisse vorbereitet sein.“ Neire reichte den Schlauch wieder Bargh hinüber, der gierig einige tiefe Züge nahm. „Ahhh… Gundaruk,“ sprach Bargh in abfälligen Worten und wischte sich den an seinem Kinn herunterlaufenden Wein mit seinem Panzerhandschuh hinfort. „Ein paar Schlücke Wein haben auch vor einem Kampf nie geschadet. In einer Kneipenschlägerei, wie auch in einem Gemetzel, kann eine leichte Trunkenheit von Vorteil sein.“ Um seine letzten Worte zu unterstreichen schlug sich Bargh mit dem Handschuh gegen die silberne Brustplatte seines leicht verbeulten Plattenpanzers. Neire spürte jetzt die Wirkung des Alkohols und seine Laune stieg. Er blickte zu Gundaruk, der sich mittlerweile in einen Kniesitz begeben und seine Luchsfellmütze von seinem kahlen Schädel gezogen hatte. „Gundaruk, wie lange wart ihr eigentlich in diesem Grab gefangen? Kann es sein, dass ihr dort das Leben und das Feiern vergessen habt?“ Mit einer Kopfbewegung deutete Neire lächelnd auf den Wein. „Ich weiß es nicht Neire. Sagt, welches Zeitalter, welches Jahr haben wir jetzt?“ Neire war erstaunt von der Ernsthaftigkeit in Gundaruks grünen Augen. Der immer noch ein wenig fremde, große Krieger schien anscheinend wirklich nicht zu wissen, wie lange er dort verbracht hatte. „Es ist das Zeitalter von Ziansassith. Ziansassith, Menschenschlange des wahren Blutes.“ Als Neire den Namen des vergangenen Herrschers von Nebelheim zischelnd aussprach, meinte er für einen Augenblick den Wind in den Wipfeln rascheln. Es war, als wollten ihm die Lichtstrahlen der Sonne einen Weg in die Schatten weisen.

Sie waren eine Weile dem Fluss gefolgt, der sie langsam bergauf führte. Gundaruk war voraus gegangen, während Bargh und Neire ihm auf ihren Pferden folgten. Neire hatte während der Reise erzählt und ihre Umgebung kommentiert. Er – Gundaruk - hatte unweigerlich zuhören müssen. Doch er hatte sich langsam an den Jüngling mit den gold-blonden Locken gewöhnt, der sich selbst Kind der Flamme nannte. Teilen des Gespräches zwischen den beiden hatte er allerdings nicht folgen können. Er hatte bemerkt, dass Bargh und Neire sich immer öfter in einer fremden Sprache unterhielten, die ihn an einen zischelnden Singsang erinnerte. Er hatte bereits vermutet, dass Neire Bargh in einer fremden Lautung unterrichtete. Bargh schien bereits einige Sätze zu beherrschen. Als die Sonne höher stieg, war der Weg am Fluss schließlich steiler geworden. Auch hatten sie mehrere kleinere Stromschnellen umrunden müssen. Schließlich waren sie auf eine große Lichtung gestoßen, die von bewaldeten Hügeln umrundet war. Hier hatten sie abgesattelt und Bargh hatte Spuren entdeckt, die von dem Hügel in ihre Richtung geführt hatten. Die Spuren waren von den Stiefeln von vier Gestalten zu identifizieren gewesen, von denen eine leichter war. Sie hatte weniger tiefe Abdrücke hinterlassen. Auch konnte Bargh feststellen, dass die Spuren wohl relativ frisch waren – weniger als einen Tag alt. Gundaruk dachte einen Moment nach und erinnerte sich an alte Geschichten aus dem Krieg. Vielleicht sind es Späher, die wie wir den Bau erkundschaften. Doch dann müssten doch auch Spuren in diese Richtung führen. Vielleicht haben sie sich aus einer anderen Richtung angeschlichen und sind dann hier am Fluss in Richtung Kusnir weitergereist. Wir sollten jedenfalls auf der Hut sein. In der Ferne, in die Bargh die Richtung der auf sie zukommenden Spuren deutete, hatte Gundaruk das Bollwerk einer Einzäunung gesehen. Ein Wall von angespitzten Baumstämmen ragte vom höheren Teil der Lichtung hervor. Von dort war keine Bewegung zu sehen gewesen. Seine Erfahrung hatte Gundaruk instinktiv handeln lassen. Er hatte Neire mit den Worten „Könnt ihr euch noch an die Krähe vor Kusnir erinnern, Neire?“ angegrinst. Doch mit dröhnendem Kopf und steifem Nacken war der Schmerz der Verwandlung noch unerträglicher gewesen. Zuerst hatte sich alles gedreht, als er sich in der Gestalt der großen schwarzen Krähe in die Lüfte erhob. Doch dann hatten mehr und mehr die Instinkte des Tieres Kontrolle übernommen. Jetzt hob er sich höher und höher. Die Winde und Luftströmungen trugen ihn hinauf. Seine scharfen Augen überblickten die Lichtung, die anscheinend gerodet war. Modernde Baumstämme und Geäst bedeckten den größten Teil des Schlags. Den Fluss sah er von hier oben wie ein glitzerndes Band. Dieser machte eine große Schleife um die Lichtung und verschwand dann im Wald der höheren Hügel. Vorsichtig näherte sich Gundaruk dem primitiven Wall. Er sah dort Speere aufragen, wie die von Wachen. Doch keine Bewegung. Auf der Hügelkuppe war zudem ein kleiner Turm zu erkennen, der als einstöckige Plattform aus Baumstämmen errichtet war. Auch von dort war keine Bewegung zu erkennen. Gundaruk zog langsam einen langen Kreis über den Turm und in Richtung des Flusstals. Dann sah er plötzlich das gähnende schwarze Loch im Hang des Hügels. Unweit des Lochs konnte er zudem eine Bresche im Wall erkennen. Doch auch dort war keine Bewegung zu sehen. So kehrte er wieder zurück. Seine Krähenlaute hallten durch das einsame Tal und kündeten von seiner Ankunft.

Bargh und Neire hatten die Pferde am Rande der Lichtung ein Stück in den Wald geführt. Sie hatten ihnen gut zugesprochen und sie dort zum Grasen zurückgelassen. Daraufhin waren sie zum Fluss zurückgekehrt und hatten auf die Rückkehr der Krähe gewartet. Neire hatte die Zeit genutzt und sich am Fluss gewaschen. Gerade schaute er in das klare, quirlige Wasser hinab, das sein Antlitz immer wieder verzerrte. Der Wein und der Rausch des bunten Vierlings ließen das Sonnenlicht tausendfach brechen. Als ob jede Blase im Wasser ein kleiner funkelnder Stern wäre. Neire war so bewegt von dem Schauspiel, dass er an Nebelheim zurückdachte. Er dachte an Lyriell. Ihr Gesicht vom kostbaren Goldstaub glitzernd erhellt. Die langen roten Haare schimmernd in den Flammen des Festes – gleich einer Corona über ihm aufragend. Er erinnerte sich, wie sie von ihm gegangen war. Wie sie in der Tiefe verschwand. Tränen rollen über Neires Wange und er murmelte ihren Namen. In diesem Moment spürte er den Panzerhandschuh auf seiner Schulter. Er hörte die Stimme Barghs. „Neire, ihr sagtet ich sei wie ein Bruder für euch. Eigentlich geht es mich nichts an. Doch als dieser Bruder frage ich euch. Was bedrückt euch? Wer ist Lyriell?“ Neire blickte zu Bargh auf und seine blauen Augen schimmerten glasig. „Sie war meine erste und einzige Liebe, Bargh. Doch nun ist sie fort. Sie ist in das Reich der Göttin eingekehrt und für immer vereint mit Feuer und Schatten.“ Als Neire sprach, blickte er den gezeichneten Krieger vor ihm an. Er wusste, er lebte im jetzt und Lyriell war weit weg; vielleicht für immer fort. „Bargh. Wir müssen Nebelheim retten. Lyriell war nur der Anfang. Sie öffnete mir die Augen. Der nächste Schritt ist eure Aufgabe und wir müssen zuerst eure Maske herstellen.“ Neire, bemerkte, wie Bargh nickte und ihn mit fanatischem Blick anschaute. „Was immer wir tun müssen Neire, ich bin bereit.“ Neire drehte sich um und ließ seinen Blick über das Tal schweifen. „Also, wo ist diese verdammte Krähe?“ Kaum hatte er die Worte beendet, hörten sie die Schreie des großen Tieres. Sie sahen, dass Gundaruk unweit von ihnen landete und sich qualvoll verwandelte. Als der große Krieger sich schließlich erhob und ihnen von seinem Flug über das Lager berichtete, war Neire hervorgetreten und hatte eine schwarze Feder von seiner Schulter gehoben. Gundaruk hatte dabei auf ihn hinabgeblickt und die Worte „Ihr dürft die Feder behalten Neire“, gesprochen. Neire hatte dabei genickt und an alte Prophezeiungen und Flüche gedacht. Wer sollte schon wissen, welchen Zweck diese Feder einst erfüllen würde. Doch schon hatte Bargh das Wort ergriffen, der voll Tatendrang in Richtung des Walls zeigte. „Lasst uns aufbrechen. Wir werden niedermachen, was sich uns in den Weg stellt. Wir werden sehen, ob dieser Skulk ein würdiges Opfer für Jiarlirae ist.“ Neire nickte, stimmte mit Bargh ein kurzes Gebet an und schloss sich dem einstigen Paladin an. Er freute sich um den Tatendrang von Bargh, der sich in einem urwüchsigen Fanatismus und wallendem Hass seine Bahn brach. Es erinnerte ihn an den Dualismus von Schatten und Feuer – so dachte er an Jiarlirae, seine Schwertherrscherin, Königin von Flammen und Dunkelheit, Dame des aufsteigendes Chaos des Abgrundes.

Bargh hatte sie mit sich gezogen. Er war furchtlos den Hang hinauf und hineinmarschiert in das Erdloch, das sich im Eingangsbereich wie ein gestützter Minengang vor ihnen auftat. Geruch von Nässe und Stein waren ihnen entgegengekommen, wie auch ein Schwall kühlerer Luft. Ein paar Schritte hinab war es dunkel geworden und sie hatten die gehauenen Steinwände aufschimmern sehen können. An einer Kreuzung hatte Neire schließlich ein Geräusch gehört. So hatten sie den Gang zur Rechten sowie den Gang geradeaus nicht weiter beachtet und waren nach links abgebogen. Wenige Schritte in dem Tunnel, hörten sie alle plötzlich ein Krachen. Bargh war in diesem Moment auf ein Brett getreten, das er im schmutzigen Boden nicht gesehen hatte. Die morschen Bohlen brachen und er drohte in die Tiefe zu stürzen. Doch Neire fasste nach ihm und so konnte er sich gerade noch zurückwerfen. Seine Stimme hallte - viel zu laut - durch den Tunnel „Wer auch immer… diese Bastarde… dafür werden sie bezahlen!“ Als sie ihren Weg über die Fallgrube fortsetzten hörte Neire plötzlich ein Geräusch. Sie konnten eine kleine Höhle sehen sowie einen Tunnel, der nach rechts abbog. Das Geräusch schien aus dem Tunnel zur Rechten zu kommen. Doch Bargh war bereits dort hineingeeilt und Gundaruk gefolgt, der jetzt als erster ging. Was nun kam waren Ereignisse, die sich in der Dunkelheit überschlugen. Eine riesenhafte graue Raubkatze sprang aus einem weiteren unterirdischen Raum hervor, der die Größe einer kleinen Halle hatte. Gundaruk torkelte überrascht zurück, doch Bargh und Neire drängten voran. Neire bemerkte sofort eine weitere Kreatur, die am linken Eingang des Gewölbes in den Schatten lauerte. So stieß er zu mit seinem Degen. Bargh wandte sich ebenfalls der in den Schatten lauernden Gestalt zu und ließ sein Langschwert hinabfahren. Der Kampf war kurz und blutig. Zuerst fiel das humanoide Wesen aus dem Schatten – es hatte grobe Gesichtszüge, eine grünlich-graue Haut und Reißzähne. Dann brachten die Angriffe das Riesenpuma zur Strecke. Die Helden keuchten auf und betrachteten das Gewölbe vor ihnen. Neben vielen kleineren Nischen war ein weiterer Ausgang zu sehen. Gegenstände und Einrichtung füllten in einer Unordnung die unterirdische Halle. Wortlos begannen sie ihre Suche. Immer wieder blickten sie in der Dunkelheit nach weiteren Gegnern. Schließlich fand Bargh eine kleine Schatulle, die er sofort öffnete. Hervor kam grünlicher Nebel, der ihn aufhusten ließ. Für einen Moment röchelte er und spuckte ein paar Tropfen Blut. Doch dann weckte das Schimmern von wertvollen Gegenständen seine Aufmerksamkeit. Außerdem war eine vergilbte Karte zu sehen, die sich in der kleinen Truhe befand. Ein näherer Blick auf die Karte offenbarte kleine gekritzelte Runen der normalen Sprache: Villa und Skulk.​
 
Sitzung 27 - Der Bau II

Die Kreatur in der Höhle brüllte in einem hohen Krächzen. Der Schrei ging Neire durch Mark und Bein. Er war mittlerweile zu Bargh und Gundaruk aufgeschlossenen und konnte durch den schmalen Spalt im Stein hindurchsehen. In der Kammer, in der das Wesen in seinen Exkrementen und auf den Knochen seiner Opfer saß, waren sonst keine Ausgänge zu erkennen. Die Kreatur richtete sich auf und drehte sich langsam um. Sie hatte den Unterkörper eines Bären. Der Kopf war von Federn bedeckt und durch einen langen, gefährlichen Schnabel geziert. Neire handelte instinktiv. Er fing an seltsam zischende Laute zu murmeln und zerrieb Schwefel und Fledermausdung in seiner Hand. Als die Kreatur auf sie zu schnellte, warf er die Kugel aus rötlichem Feuer. Eine gewaltige Explosion von Magma erfüllte die Höhle und ließ den Eulenbär für einen Moment aus Neires Blickfeld verschwinden. Er spürte, wie die Flammen in den Tunnel hinausschossen in dem sie standen. Dann hörte Neire einen dumpfen Aufschlag. Als das Feuer sich legte sah er, dass die riesenhafte Kreatur grässlich verbrannt am Boden lag. Sie hatte ihr Leben in den Flammen Jiarliraes ausgehaucht. Neire bückte sich und trat hervor in die noch brennenden Flammen der Felskammer. Einen Moment lang dachte er zurück an die vergangenen Stunden. Sie hatten Höhle um Höhle des Baus untersucht. Ein Wirrwarr von Gängen hatten sie vorgefunden, doch keine weiteren Kreaturen. Schließlich hatten aus einem Gang die Geräusche der in Ketten gelegten Kreatur gehört. Neire fragte sich, wer den Eulenbär wohl versklavt hatte. Er bewegte mit einem seiner Stiefel die schweren Gliedmaßen. Doch er sah keine Symbole an den Ketten. Auch eine Untersuchung des Raumes ergab keine weiteren Ergebnisse. So drehte er sich um und kehrte zu seinen Kameraden zurück. Bargh nickte ihm respektvoll zu und sprach ein Gebet zu Ehren der Göttin. Neire stimmte ein in den zischelnden disharmonischen Choral. Nur kurz hielten sie inne um zu beten. Dann brachen auf und erkundeten weitere Gänge, die unerforscht in der Dunkelheit lagen.

Gundaruk ließ seine Augen über den von Wolken überzogenen Himmel gleiten. Sie waren gerade aus den unterirdischen Sälen des Baus aufgestiegen. Weitere Gänge und Kammern hatten sie entdeckt, doch keine Kreaturen. Ein Tunnel hatte sie am Fluss ins Freie geführt, doch sie waren wieder zurückgekehrt in die Erde und hatten weitergesucht. Schließlich hatten Gundaruks geübte Augen eine geheime Türe entdeckt. Vielleicht war es der Teil seines elfischen Blutes, der ihm dies ermöglicht hatte. Sie hatten die kleine Kammer hinter der Türe durchsucht und einen wertvollen elfischen Tarnumhang gefunden. Neire hatte erzählt von einem solchen Gegenstand schon einmal in alten Legenden gehört zu haben. Als alle Gänge erkundet waren, hatten sie sich entschlossen aufzubrechen und der Karte zu folgen, die sie hier unten gefunden hatten. Gundaruk betrachtete die bewaldeten Hügel und die Felsen. Eine malerische Landschaft, die von der jetzt etwas tiefer stehenden Sonne in ein prachtvolles Licht gehüllt wurde. Das Rauschen des Windes war zu hören und aus der Ferne drang das sanfte Geräusch der Stromschnellen des Flusses. Er nickte Bargh und Neire zu, die hinter ihm aus der Tiefe in die Sonne hervorkamen. Besonders Neire schien das helle Licht nicht zu vertragen und kniff die Augen zu. Bargh hatte bereits die Augenbinde umgelegt und den roten Rubin seines rechten Auges verdeckt. „Also reisen wir der Karte nach, Neire? Zu dem Punkt, wo Villa und Skulk steht?“ Neire blinzelte ihn mit zusammengekniffenen Augen an. Noch immer waren Reste des getrockneten Blutes in seinen gold-blonden Locken zu sehen. Seine Kleidung war hier und da von Schlamm und Spinnweben bedeckt. „Gundaruk, ihr habt euch tapfer geschlagen dort unten. Und eure verborgenen Fähigkeiten das Verdeckte zu erkennen haben sich euch ausgezeichnet.“ Gundaruk wusste nicht genau worauf Neire hinaus wollte und so zögerte er einen Moment. Doch schon fuhr der junge Priester fort. „Wir wissen nicht ob wir den Skulk bereits getötet haben, Gundaruk. Lasst uns zu unseren Pferden zurückkehren und nach der Villa suchen.“ Auch Bargh nickte und zeigte mit seinem rechten Panzerhandschuh in die Richtung des Waldsaumes der unteren Lichtung. So setzten sie sich alle in Bewegung. Gundaruk bemerkte, dass Bargh immer wieder nach Spuren Ausschau hielt und sich für einen Moment niederkniete. Nach kurzer Zeit kamen sie am Waldrand an und fanden dort die Pferde – friedlich grasend. Als Neire ihm ein weiteres Mal den Weinschlauch anbot um auf seine Taten anzustoßen, verneinte er nicht. Der Wein aus der verlassenen Festung hatte tatsächlich einen vorzüglichen Geschmack. Auch verdrängte er die langsam aufkommende Müdigkeit. Sie setzten ihre Wanderung am Fluss fort. Dann wurde langsam das Licht der Sonne weniger und die Schatten länger. Plötzlich hörte Gundaruk ein Knacken im Wald. Wie ein Zweig, der durch Bewegung zerbrochen wurde. Nach seinem warnendem Hinweis sattelten Neire und Bargh augenblicklich ab und ließen die Pferde zurück. Sie drangen in Richtung des Geräusches vor, weg vom Fluss. Zuerst sahen sie nichts, doch im dichteren dunkleren Wald konnten sie die Silhouette einer Gestalt erkennen, die einen Bogen trug. Knöcherne Gesichtszüge, eine gedrungene Stirn und platte Nase sowie spitze Eckzähne ließen eine Ähnlichkeit zu dem Bewohner des Baus erkennen, den sie dort erschlagen hatten. Gundaruk zögerte nicht lange. Er beschwor die Natur zur Bewegung. Jetzt überschlugen sich die Ereignisse. Neire und Bargh bewegten sich auf den Bogenschützen zu. Doch hervor stürmten zwei Krieger, mit Langschwert und Dolch bewaffnet - dem Aussehen nach dem Bogenschützen ähnlich. Doch ihr Fortkommen kam jäh zum Erliegen. Ranken und Wurzeln begannen zu greifen wie dunkle Schatten. Der Wald knackte und raunte. Die Krieger ächzten und schrien. Gundaruk sah, wie eine vierte Gestalt hervortrat. Die ältere Frau war zwar nicht größer als die Krieger, aber fettleibig und häßlich. Warzen bedeckten ihr unförmiges Gesicht und sie hinkte beim Gehen. Ein intensiver Kampf entbrannte. Die Frau beschwor faule Magie und für einen Moment wirkte es, als wolle Bargh der Flucht ergreifen. Doch der heilige Krieger riss sich zusammen. Dann ließ Neire die Macht seiner Göttin Chaos und Verderben über die Kreaturen bringen. Schattenhafte Blitze und Feuerkugeln aus Magma ließen die Körper ihrer Gegner zerplatzen. Gundaruk sah, dass der Junge die Flamme von Chaos und Schatten in seiner Hand hielt. Seine Augen glühten wie Kohlen in der Dunkelheit.​
 
Sitzung 28 - Verstümmelte Leichen

Neire ließ sich verzweifelt niedersinken. Die Flamme in seiner linken Hand brannte unkontrollierbar hernieder. Er spürte einen ziehenden Schmerz von seinen Herzsteinen im linken Arm ausgehen. Das Gefühl von Ohnmacht breitete sich in ihm aus. Er wagte es nicht sich umzublicken. Barghs verbliebenes lebendes Auge betrachtete ihn forschend. Er spürte, dass sich etwas verändert hatte. Er spürte den Verlust des Feuers. Kälte, die vom Boden aus an ihm hochkroch. Doch er konnte sich nicht erheben; verharrte er doch wie gelähmt. Tränen rannen über seine Wangen. Er versuchte die alten Gebete zu rezitieren, doch sie klangen farblos und falsch. Da war auch etwas, etwas anderes. Die tiefer stehende Sonne drang nicht mehr weit durch den dichten Wald. Nur vereinzelte Strahlen durchbrachen das Dickicht. Alles mischte sich in einem idyllischen Licht aus knorrigen Bäumen und Schatten. Auch das entfernte Rauschen des Flusses verwusch dieses Bild. Neire war sich sicher. Zwischen in Bäumen sah er Thaakaz, die Rune von Nebel und Dunkelheit. Die Rune schmiegte sich gegenüber von Neire und Bargh in ein Tor von Bäumen. Auch Bargh war an diesem Abbild beteiligt. Er stand in der Sonne und brach einen Teil der Strahlen. Einen Moment lang sammelte Neire seine Gedanken. Soll es heißen…? muss ich den Weg des Feuers verlassen? Soll ich den Weg des Schattens wandeln? Es musste so sein. Das Schwinden seiner Fähigkeiten hatte er bis jetzt nicht erlebt. Und ein Zeichen dieser Intensität hatte er nur ein einziges Mal zuvor gesehen. Neire erhob sich langsam. Er spürte den gepanzerten Handschuh von Bargh sanft auf seiner Schulter. Er hörte, dass der gefallene Paladin mit ihm betete. Doch weiter liefen die Tränen an seinen Wangen hinab. Er fühlte sich wieder wie das, was er eigentlich war. Ein fünfzehn Jahre alter, schwacher und unerfahrener Junge. Kaum nahm er Notiz vom siegreichen Ende des Kampfes; er betrachtete nicht die zerkochten und aufgeplatzten Körper seiner Widersacher. Er hatte seine geliebte Flamme verloren und würde nun in den Schatten wandeln.

Gundaruk richtete sich ruckhaft auf. Ein Traum des vergangenen Krieges hatte ihn geplagt. Er hatte auf die Angreifer mit seinem Speer eingestochen, doch sie waren immer näher gerückt. So war der Traum weitergegangen und hatte ihn gequält. Er hatte diese Angewohnheit. Aus den vergangenen Tagen des Krieges. Beim Aufwachen schnell an der Waffe zu sein. Meist nach viel zu kurzem Schlaf. Doch er hatte sich an dieses Leben gewöhnt und es hatte ihm das ein oder andere Mal zu einem taktischen Vorteil verholfen. Doch jetzt spürte er, dass irgendetwas ihn behinderte. Irgendein Ding um ihn herum. In der Nacht brauchten seine grünen Augen eine gewisse Zeit, um die Dunkelheit auch ohne Licht zu durchblickten. Dann sah er das Zelt, das er bei seinem wüsten Aufstehen mit sich gerissen hatte und er erinnerte sich an den letzten Abend. Sie hatten nach dem Kampf die Gegenstände der Kreaturen geplündert und ein kostbares Langschwert sowie einen seltenen Dolch gefunden. Sie waren dann aufgebrochen und hatten nach der Karte navigiert. Die Stimmung von Neire war nach dem Kampf in ewiges Trübsal abgesunken. Der Junge kam ihm auch ängstlicher vor, als zuvor. Und Gundaruk kannte Neire jetzt schon einige Zeit. Als die Sonne hinter den Hügeln verschwand hatte Bargh eine kleine Lichtung erspäht und sie hatten dort ihr Lager aufgeschlagen. Bargh und Neire hatten Wein getrunken. Tatsächlich war Neires Stimmung etwas besser geworden. Doch noch immer hatte er eine tiefe Melancholie ausgestrahlt. Schließlich war Gundaruk in sein Zelt gekrochen und Neire hatte die erste Wache übernommen. Gundaruk riss das Zelt von seinem riesenhaften Leib und blickte sich um. Er war instinktiv mit seinem Speer aufgestanden, den er immer an seiner Seite hatte. An einen Baum gelehnt schlief Bargh, in seinem silbrigen Plattenpanzer. Doch von Neire war keine Spur zu sehen. Hatte der Jüngling sie unbewacht zurückgelassen? Gundaruk kam nicht weiter mit den Gedanken. Von hinten spürte er ein Stechen in seiner Milzgegend und keuchte auf. Doch es war keine Waffe die ihn traf. Eher, als ob ein Kind ihn kitzeln wollte. Als er sich umdrehte sah er tatsächlich schemenhaft Neire in den Schatten stehen. Der Junge hatte sich den elfischen Tarnumhang umgelegt und war kaum von der Umgebung zu unterscheiden. Nur als er seine Kapuze zurückzog und seine gold-blonden Locken offenbarte, erblickte Gundaruk Neires Gesicht. „Ihr solltet nicht so leichtfertig und unachtsam sein, Gundaruk. Die Schatten bergen oft nicht nur Geheimnisse, sondern auch unangenehme Überraschungen!“ „Ah, Neire“, erwiderte Gundaruk. Er hatte sich erschrocken und sogar kampffertig gemacht, doch irgendwie erfreute ihn der kindliche Humor von Neire. Er blickte auf den Lockenschopf hinab und brummte: „Ja, wir werden sehen was euch überraschen wird, Kleiner.“

Sie waren am nächsten Morgen aufgebrochen. Die Nacht war ohne weitere Ereignisse verstrichen. Auch an diesem Tag hatten sie Sonne und Wolken begleitet. Der Weg am Fluß war schließlich steiniger geworden und hatte sie dann zu einem Steilufer geführt. Sie hatten sich für den kleinen Kieselstrand entschieden, der dann immer breiter geworden war. Nach einer Zeit, es war immer noch in den Morgenstunden gewesen, hatten sie in der Ferne einen Leichnam entdeckt. Eine nähere Untersuchung offenbare einen grausam ermordeten Mönch des Gelehrten Gottes Oghma. Die linke Gesichtshälfte war von Krallenspuren zerfetzt und einer seiner Arme endete in einem rot verkrusteten Stumpf. Sie hatten sich dazu entschieden den blutigen Fußspuren zu folgen und waren schließlich an eine Öffnung in der Steilwand gelangt. Zwei Statuen von steinernen Greifen waren zu sehen gewesen. Eine hoch oben in der Wand und eine andere vor einem hölzernen Vorbau. Als sie sich weiter näherten, hatten sich die Statuen in lebende Wesen mit rotglühenden Augen verwandelt. Der Kampf war kurz und intensiv gewesen. Ein Wesen hatte sie im Nahkampf angegriffen, während das andere sie im Sturzflug attackiert hatte. Doch mit vereinten Kräften hatten sie beide Wesen niedergestreckt. Ihr Weg hatte sie dann in die große Öffnung unter dem hölzernen Vorbau geführt. Dahinter offenbarte sich ihnen eine Höhle. Die einstige Wohnhöhle des Mönchs war gänzlich verwüstet. Zudem war der grauenvolle Anblick einer umgekehrt aufgehängten Gestalt zu sehen, deren Haut abgezogen war und deren Gliedmaßen abgetrennt wurden. Noch war kein Fäulnisgeruch vernehmbar. Die Blutspuren sahen frisch aus. Eine Untersuchung des Gemachs offenbarte einen weiteren Ausgang, ein umgestürztes Pult und Schriftzeichen: „Auf der Heide Schwerter machen ihren garstigen Tanz und Sensen auf dem üppigen Feld - Feuer webt einen tödlichen Kranz, doch die Feder allein ist, was im Bann mich hält.“ Sie blickten sich immer wieder hastig um, während sie die Schriftzeichen entzifferten.​
 
Sitzung 29 - Ruine des Herrenhauses

Gundaruk hatte sich am kleinen Feuer niedergekniet, das der junge Priester entzündet hatte. Er hatte eine Zeitlang meditiert. Nun löste sich sein Blick aus der Erstarrung. Er betrachtete den Raum der kleinen Höhle. Sie befanden sich in der Kammer im Stein der Felswand. Das Licht der morgendlichen Sonne drang durch die Öffnung unter dem Vorbau und brach sich im Rauch des Feuers. Der Rauch hatte den penetranten Geruch von Blut verdrängt, der das Gemach zuvor erfüllt hatte. Wie eine Warnung hing dort der Körper der gehäuteten Leiche. Der verstümmelte Mann konnte noch nicht lange tot sein, denn sein Blut tropfte auf den verwüsteten Boden. Doch Gundaruk ließ sich von diesem Anblick nicht ablenken. Er begann einen Singsang alter Worte anzustimmen. Während er die Tropfen von Wasser und den getrockneten Dung den Flammen übergab, leuchteten die Runen des Waffenbandes golden auf. Schließlich stützte er sich auf den Speer und erhob sich. Die Flammen des Feuers kamen ihm plötzlich fern und fremd vor. Der Rauch offenbarte das Gras der Pflanze, die jenseits der Höhle im fortführenden Tunnel wuchs. Neire hatte das Grasgewächs als Dörrkraut identifiziert: Eine Pflanze, die eine niedere Intelligenz besaß und ein instinktives Verhalten aufweisen konnte. Die Grashalme des Dörrkrauts besaßen kleine Nadeln, deren Gift Muskelkrämpfe verursachen konnte. Zudem hatte er von einer Kultivierung des Dörrkrauts in alten Zivilisationen berichtet. Aus den Halmen wurde gar wertvoller Papyrus für Bücher und Schriftrollen hergestellt. Gundaruk wendete sich dem Kraut zu und sprach langsam und bedächtig. „Hört mich an, Dörrkraut. Berichtet mir. Von dem, was sich hier zugetragen hat.“ Für einen kurzen Moment herrschte Stille. Doch dann spürte er die Visionen von Bildern auf ihn einwirken. Wie das Echo eines Chores vieler einzelner Stimmen vermischten sich die Bilder und erzeugten so Unschärfe. Gundaruk erblickte die Höhle in aufgeräumtem Zustand. Dort war ein Mann mittleren Alters zu erkennen, gebeugt über das Pult; Schreibfeder in der Hand. Dann sah er die steinernen Greifen in die Höhle hineinstürmen. Rote Augen leuchteten im Fackellicht und das Gemetzel begann. Die Visionen endeten mit dem Bild der gehäuteten Gestalt, deren Gedärme auf den Boden hinabhingen – der jetzige Zustand. Gundaruk drehte sich um zu Neire. „Die Greifen kamen in die Höhle und haben ihn so zugerichtet.“ Neire nickte und antwortete. „Fragt es nach dem Rätsel, nach Schwertern und Sensen, nach Feuer und der Feder.“ Gundaruk manövrierte seinen Geist ein weiteres Mal in Richtung der Pflanze. „Dörrkraut, was hat die Feder für eine Bedeutung?“ Tatsächlich antwortete die Kreatur mit weiteren Visionen. Er sah die Bilder des Mannes, der die Schreibfeder vor sich hielt und so durch den Tunnel schritt. Das Dörrkraut zog sich zurück, als würde es eine Art Ehrfurcht vor der Feder verspüren. Nachdem Gundaruk Neire und Bargh von der Antwort berichtet hatte, dachten sie über das Rätsel nach. Das Feuer webt einen tödlichen Kranz musste eine Warnung vor dem Entzünden des Dörrkrauts sein. Die Feder schien das Wesen zu bannen und einen Gang durch den Tunnel zu ermöglichen.

„Das Buch ist eine Art Ahnengeschichte. Es berichtet vom Geschlecht der Arthogs, einer Sippe von schwachen Bastarden und Sklaven.“ Neire sprach den Namen mit herablassender Abscheu und hatte den Zusatz selbst hinzugefügt. Sie hatten sich um das Feuer versammelt, nachdem sie mit einer erhobenen Schreibfeder den Tunnel erforscht hatten. Tatsächlich war das Dörrkraut zurückgewichen. Hinter dem Tunnel hatten sie eine kleine Bibliothek entdeckt und eines der Bücher mitgenommen. Jetzt saßen sie um das Feuer und Neire begann die Geschichte des Herrschergeschlechts vorzulesen. Es wurde berichtet von einem Herrschaftssitz. Das Herrenhaus der Arthogs sollte sich am See von Splendow befinden, unweit von Kusnir. Tatsächlich stimmte dieser Hinweis mit der Markierung der Karte zusammen, die sie im Bau gefunden hatten. Das Buch beschrieb auch das Wappen der Familie von Arthog. Es stellte einen Handschuh dar, an dessen Ringfinger sich ein Ring befand. Neire hatte schon einmal von diesem Wappen gehört. Der Handschuh stellte ein magisches Artefakt dar, dass die Familie selbst erschaffen und dann zu ihrem Wappen gemacht hatte. Der Handschuh diente wohl dem Schutze des Fürstentums und war als Wächter benannt. Neire dachte zurück. Er erinnerte sich an die Runen im Blut. Es war von einem Träger die Rede gewesen. Vielleicht hatte dies etwas mit diesem Handschuh zu tun. Das Buch endete schließlich mit der Erwähnung des letzten Herrschers. Er hatte beim Volk kein großes Ansehen genossen und den Familienbesitz in den Küstenlanden verprasst. Mit ihm war das Geschlecht der von Arthogs schließlich untergegangen. Nachdem Neire die letzten Worte gelesen hatte, verließen sie den Ort. Sie brachen in Richtung des Herrenhauses auf, bewegten sich zurück über den Strand und dann schließlich in den Wald hinein. Hier fand Bargh die Spuren der vier Kreaturen, die sie auf dem Weg vom Bau ermordet hatten. Sie entschieden sich den Spuren zu folgen und erreichten schließlich eine Lichtung. Inmitten dieser Lichtung und auf einer Landzunge zum See, sahen sie die Ruinen des Herrenhauses. Es stellte eine Mischung zwischen einer gotischen Kathedrale und einer Wehrburg dar und verfügte über Vorgebäude, die einen kleinen Hof umschlossen. Die Spuren der vier Kreaturen endeten am Ufer und in einiger Entfernung des Herrenhauses. Anscheinend hatten sie sich nicht getraut den inneren Hof aufzusuchen. Vielleicht hatten sie aber auch von hier das Gebäude eine Zeitlang observiert. Langsam und vorsichtig näherten sie sich dem Eingang. Eine steinerne Treppe führte hinauf in den Hof. Neire, in seinem Tarnumhang fast nicht zu erkennen, schlich vor und warf einen Blick in das Innere. Er sah zur rechten Seite zwei monströse Gestalten, die über dem blutigen Leichnam eines menschlichen Opfers verweilten. Beide gingen aufrecht auf Hinterbeinen, doch sie besaßen ein bläuliches Federkleid. Ihre Köpfe jedoch erinnerten an Hirsche und waren von schwarzen Federn bedeckt. Spitze Reißzähne kamen aus ihren blutverschmierten Mäulern und an ihren Köpfen waren verdrehte Hörner zu erkennen. Sie hatten bereits die gesamte Brust ihres Opfers aufgerissen und pickten gerade das Herz heraus. Aus den Schatten heraus hörte Neire die schweren Schritte von Gundaruk und Bargh nahen. Als die Wesen sich umdrehten hatten sie ihn anscheinend nicht erkannt. Der Kampf brach los und die Wesen gingen in einen Sturmangriff über. Neire nutze seine Chance und bewegte sich in den Rücken einer der Kreaturen. Hinterlistig stieß er den Schlangendegen in die Stelle, wo er glaubte das Wesen sei am verwundbarsten. Die gewundene Klinge blitzte auf in der Sonne und drang tief in den Körper ein. Auch Gundaruk stach in diesem Moment mit dem Speer zu und die erste der Kreaturen ging zu Boden. Die zweite Kreatur rangen sie mit vereinten Kräften nieder. So blickten sie sich hastig um, ob der Kampfeslärm weitere Angreifer geweckt hatte. Neire nutze abermals seinen Tarnmantel und verschwand in den Schatten.

Es war nicht besonders warm, doch die Strahlen der Mittagssonne brannten auf ihren Gesichtern. Sie hatten sich der Türe genähert, die den Eingang in den Herrschaftssitz versperrte. Drei große Riegel waren dort zu sehen. Zwei davon trugen noch ein Schloss. Das Schloss des dritten Riegels war entfernt worden – mit einem unguten Ausgang für die diebische Kreatur, die dort noch immer lag. Allerdings musste dies schon vor einer Weile passiert sein, denn von der Gestalt war nur noch ein Skelett übrig. Sie hatten die Räume der Gebäude durchsucht. In einem Haus hatten sie drei Nestlinge der zuvor bekämpften Kreaturen gefunden, die an drei Leichen fraßen. Sie hatten die Nestlinge getötet und kleinere Wertgegenstände bei den Leichen gefunden. Die anderen Häuser waren leer gewesen oder die Einrichtung war vor langer Zeit zerstört worden. Doch Gundaruks elfisches Blut hatte erneut ein geheimes Fach erspäht, was sich in einem Holzbalken im Gebälk befand. Hier hatten sie eine kleine Truhe entdeckt. Nach kurzer Untersuchung hatte Neire auf die Falle hingewiesen, die die Truhe sicherte. Neire hatte die Falle schließlich entschärft und sie hatten einige wertvolle Edelsteine gefunden. Doch jetzt mussten sie in das Innere der Ruine vordringen. Neire blickte ein letztes Mal in die Sonne und zog seinen Tarnmantel enger. Er brachte seine Dietriche hervor und begab sich in den Schatten der Türe. Seine Hände zitterten als er sich den Schlössern näherte.​
 
Sitzung 30 - Ruine des Herrenhauses II

Er fühlte wieder. Da waren Sonnenstrahlen auf seinem Schädel. Schweißperlen hatten sich auf dem vernarbten Gewebe gebildet und rannen hinab. Da war ein quälendes Jucken. Taubes Gewebe begann sich erneut mit Leben zu füllen. Es fühlte sich heiß und pulsierend an. Er wollte sich kratzen, wollte seine Haut zerreißen. Doch dafür war keine Zeit. Er beherrschte sich, wie er sich auch in seinem alten Leben beherrscht hatte. Disziplin war über allem gewesen, Disziplin war das eiserne Gesetz – wie das Sonnenlicht auf den Stahl fiel, wie der Tod im Leben die einzige Konstante war. Bargh betrachtete Neire. Sein neuer Begleiter und einziger Freund war an die Türe herangetreten. Der Tarnumhang ließ den jungen Priester mit den Schatten verschmelzen. Es war, als ob das Sonnenlicht ihn meiden würde. Bargh betrachtete Neire genau. Der Jüngling hatte bereits eines der zwei verbliebenen Schlösser geknackt und widmete sich dem letzteren. Doch Bargh hörte den zischelnden Fluch, in der Sprache von Nebelheim. Er sah, dass Neire sich umdrehte und in seine Richtung blickte. Das von gold-blonden Locken umrahmte Gesicht des Kindes der Flamme war verzerrt von Hass und Enttäuschung. Bargh wusste, dass er jetzt reagieren musste. Er trat hervor und rammte den Knauf seines Schwertes auf das schwere Schloss. Es gab ein Knacken als die schwere metallene Konstruktion brach. Die doppelflügelige Türe vor ihnen war jetzt frei. Bargh schob einen Türflügel zurück und erhob sein Schwert. Sie erblickten im näheren Bereich der Türe keine direkte Gefahr. Hinter dem Portal eröffnete sich ein Gang, der nach wenigen Schritten in eine Art Herrschaftssaal mündete. Im Zwielicht sahen sie eine Doppelreihe von Statuen und einen Thron, der von goldenen Adlern umringt war. Doch da war auch Bewegung. Bargh sah zwei Kreaturen, gebeugt über einen Leichnam. Mit ihren Zähnen rissen sie große Stücke Fleisch aus dem leblosen Opfer. Fast instinktiv ließ Bargh sein Langschwert in der Scheide verschwinden und zog die Armbrust hervor. Er legte einen Bolzen ein und begann zu zielen. Nur kurz nach dem schnappenden Geräusch schlug der Bolzen in das faulige Fleisch der dort fressenden Gestalt. Doch kein Schmerzensschrei war zu hören. Langsam richteten die Gestalten sich auf und kamen wankend auf sie zu. Aus den Schatten der Halle kamen zwei weitere, so dass es insgesamt vier Angreifer waren. Noch einen Bolzen schoss Bargh auf die Kreatur, bevor diese den Eingang erreichte. Dann ließ er die Armbrust fallen und zog sein Schwert. Der Gestank von Leichenfäulnis war plötzlich allgegenwärtig. Die Kreaturen mussten einst Menschen gewesen sein. Jetzt war ihre Haut verfault. Hier und dort konnten sie freigelegte Sehnen und Knochen sehen. Doch die Gestalten drangen nicht in den Nahkampf vor. Sie blieben am Eingang des Türflügels stehen und begannen zu würgen. Hervor brachen sie einen Schwall von grünlich ätzenden Leichensäften und versuchten Bargh damit zu treffen. Dort wo die grünliche Flüssigkeit ihn berührte, spürte er ein Brennen und Jucken auf seiner Haut. Ein wilder Kampf brach los, als sich Bargh und Neire den Kreaturen entgegenstellten. So intensiv war der Gemenge, dass sie nicht erkannten welch Ungeheuer dort aus der Ferne herangeschwebt kam. Aus der Ruine näherte sich lautlos ein Laken, das von Staub und Spinnenweben bedeckt war. Unter dem Laken glühte ein Paar von grünen Augen. Als sie das Wesen sahen, war kaum Zeit zu reagieren. Bargh versuchte noch einen Ausfallschritt zu machen, ohne die untoten Geschöpfe vor ihm aus den Augen zu verlieren. Doch das Wesen begann sich über ihn zu stülpen. Seine Arme wurden unweigerlich an den Körper gedrückt. Die Rüstung knackte hier und dort und er schnappte ein letztes Mal nach Luft. Dann war plötzlich alles wie in Trance für ihn. Seine Umgebung nahm er nebelhaft verschleiert wahr. Er hörte die Schreie von Neire und erinnerte sich an seinen Abstieg in die Unterwelt. Er sah das Bild von Feuer und Schatten, vernahm das Strömen und das Zischen. Er blickte hinein in die Glut im Inneren Auge. „Bargh, folgt mir. Wir müssen zurückweichen.“ Nur verschwommen drang die Stimme an ihn heran. Es war Neire, der an ihm zog und zerrte. Seine Vision löste sich langsam und er schnappte nach Luft. Doch wie er sich auch anstrengte, versperrte das Wesen ihm den Atem. Ein weiteres Mal versuchte er sich gegen die Kreatur zu stemmen. Er sah neben sich Neire auftauchen. Der Junge zog an dem Laken. Mit all seiner verbleibenden Kraft stemmte er sich Bargh gegen die Kreatur. Tatsächlich gab es ein Knacken und einen Ruck. Die Kreatur glitt von ihm hinab. Als er tief Luft holte, sah Bargh, dass sie bereits über den ganzen Hof zurückgewichen waren. Die Ghule kamen ihnen langsam nach. Das Wesen schwebte noch immer über ihm. Bargh zog sein Schwert und hieb auf das Wesen ein. Die Wut und der Hass gaben ihm Kraft. Einer seiner Hiebe schlitzte das Laken der Länge nach auf. Er sah, dass die Kreatur leblos zu Boden glitt. Der Hass trieb Bargh weiter an, als er sich den Ghulen stellte. Neire kämpfte an seiner Seite doch drang jetzt in den Rücken der Kreaturen vor. Gemeinsam töteten sie ein Wesen nach dem anderen. Doch seine Gedanken waren noch immer bei Feuer und Schatten. Das Bild der Vision hatte sich wieder in seinen Geist gebrannt. Und da war die Stimme Neires. Schon einmal hatte ihn der junge Priester zurückgeholt. Zurückgeholt hatte er ihn von den Toten.

Neire blickte ein letztes Mal aus der verborgenen Türe, bevor er sie hinter sich zuzog. Sie hatten ihre Spuren verwischt und wollten sich in dem kleinen Gemach ausruhen. Die Türe schloss sich mit einem leisen Klicken. Neire atmete auf und dachte zurück. Sie hatten das obere Geschoss des Herrenhauses durchsucht und dabei einige Bücher und diesen geheimen Raum gefunden. In dem getarnten Gemach hatte sie eine metallene Schlange angegriffen. Nachdem sie das Wesen getötet hatten, waren ihnen die Bücher aufgefallen, die auf Schreibpulten aufbewahrt wurden. Sie hatten ein Buch als ein Zauberbuch und ein anderes Buch als eine Anleitung identifiziert. Die Anleitung schien an Magier gerichtet, einen Gefährten zu finden. Danach waren sie in den Keller des Hauses vorgedrungen. Neire war vorangeschlichen. Weiter unten hatten sie eine geisterhafte Erscheinung von mehreren grünen Glühwürmchen entdeckt, die sie angegriffen hatten. Bargh hatte gegen die Kreaturen gekämpft. Doch jedes Mal, wenn er eines der Wesen getötet hatte, war ein weiteres nachgekommen. Schließlich hatten sie die Flucht nach oben ergriffen. Neire war danach wieder hinabgeschlichen. Hinter den Wesen hatte er ein Kellergewölbe entdeckt, aus dem zwei weitere Gänge hinfort führten. Dort hatte er eine Sphäre totaler Dunkelheit gesehen, die einen Durchmesser von zwei Schritten hatte. Neire begab sich zur Ruhe, doch dachte er an die Dunkelheit dort unten.​
 
Sitzung 31 - Hinein in ein selbst geschaufeltes Grab

Um sie herum war das steinerne Gewölbe. Neire und Bargh wussten nicht genau, wie lange sie sich bereits hier niedergelassen hatten. Es drang kein Licht in die geheime Kammer, deren Eingang sie behutsam geschlossen hatten. Neire hatte sich immer wieder um die Wunden von Bargh gekümmert. Unter den Verbänden, die jetzt seinen Oberkörper bedeckten, war die Haut des Kriegers von den grünlichen Glühwürmern aufgerissen worden. Doch der Blutstrom war bereits verronnen und eine Kruste hatte sich gebildet. Neire ließ ab von Bargh und wendete sich seinen Fackeln zu. Der große Krieger hinter ihm war in einen leichten Schlaf gefallen und so widmete Neire seine gesamte Aufmerksamkeit dem Ritual. Es hatte etwas Magisches, wenn er die Fackeln aufstelle. Der Geruch von Teer, die Freude auf den kommenden Schein des Feuers, die Erwartung des Tanzes der Schatten. Als die ersten Funken seines Feuersteines den Schaft berührten war die entstehende Flamme zerbrechlich und klein. Doch schon bald loderte das Feuer auf. Neire entzündete die beiden anderen Fackeln und positionierte sich in der Mitte des Dreiecks. Seine Gedanken waren im Inneren Auge von Nebelheim. Er konnte förmlich die Glut spüren, die Hitze, die von unten aufstieg. Doch das Feuer, in das er blickte war weit weg. Die Schatten waren vorgedrungen und tanzten in wabernden Formen. Für einen kurzen Moment dachte er Geräusche zu hören – wie ein fernes polyphones Schreien von vielen Kinderstimmen. Die dunkle Kugel tauchte vor seinem geistigen Auge auf. War es ein Wesen, das er dort unten gesehen hatte? Er betete nun schneller die Verse zu Ehren der alten Göttin. Sollte die Kugel ein Wesen sein, so musste sie sich unterwerfen. Ihr, der Schwertherrscherin, Königin von Feuer und Dunkelheit.

Bargh hob sein Schwert und blickte in den dunklen Tunnel. Sie hatten eine längere Zeit in dem Gemach verbracht. Er hatte die meiste Zeit geschlafen und Neire hatte sich um seine Wunden gekümmert. Als er wach gewesen war, hatte ihm Neire aus dem Buch vorgelesen, das sie in einem verlassenen Gemach des Herrenhauses gefunden hatten. Es stellte eine Abhandlung über den Fischfang dar. Von den verschiedensten Angeltechniken über den Fang mit Netzen bis zur Reusenherstellung, deckte das Buch das Gebiet umfassend ab. Er erinnerte sich auch an die feinen Zeichnungen, die Neire ihm immer wieder gezeigt hatte. Dann waren sie wieder aufgebrochen. Sie hatten den Leichengeruch im Herrschersaal nicht weiter beachtet und waren hinabgestiegen. Bargh war auf sich allein gestellt. Neire hatte die andere Treppe genommen und war in den Schatten verschwunden. Jetzt sah er die grünen Würmer aus Licht auf ihn zurasen. Sie waren hinter einer Öffnung im Tunnel erschienen. Von dort, wo Neire ihm von der Kugel der Dunkelheit berichtet hatte. Bargh stieß seine glänzende Klinge nach vorne. Es war als ob er kurz einen Widerstand spürte. Das erste von zwei Wesen brach in sich zusammen. Doch hinter der anderen Kreatur sah er bereits zwei neue Lichterscheinungen um die Ecke eilen. Kaum spürte er den Schmerz, als die grünlichen Flammen an seinem Fleisch rissen. Immer wieder stieß er zu, ließ den magischen Stahl tanzen. Irgendwann hörte er die Stimme von Neire. „Bargh, die Dunkelheit. Ein Wesen… Die grünen Lichter gehen von ihm aus.“ Er sah wie nach seinem Hieb die letzte Kreatur vor ihm sich aufzulösen begann und bewegte sich in Richtung der Öffnung. Tatsächlich erkannte er dort hinter das Kellergewölbe. In einer Nische konnte er die Kugel aus Dunkelheit sehen, wie von Neire beschrieben. Drei grüne Flammenwürmer zuckten um die Sphäre, als wollten sie diese schützen. Bargh hob sein Schwert und drang in die Kammer hinein. Er hörte die Worte von Neire durch das Gewölbe hallen. „Düsternis, werft euch hernieder vor Jiarlirae, denn sie ist Feuer und Schatten - wie sie über Flammen und Dunkelheit steht. Sie ist mehr als die Menge der Teile.“ Bargh bemerkte, wie die Kugel zu verschwimmen begann; die Lichter fingen an zu zucken. Als ob die Kreatur Angst vor ihm verspüren würde. Wut und Hass brach sich Bahn und seine Klinge schnellte nach vorne.

Hier unten war der modrige Geruch stärker gewesen. Der morbide Charme der unterirdischen Halle hatte sie einen Moment in regungsloser Betrachtung gefesselt. Dann hatten sie sich durch das vorgetastet, was wie ein alter unterirdischer Hafen aussah. Der Ausgang schien durch einen Geröllsturz versperrt und das Wasser stand niedrig am Höhlenkai. Die Wände glitzerten nass in der Dunkelheit. Moose und Pilze bedeckten den alten gehauenen Fels. In der Mitte des steinernen Saales und oberhalb des modrigen Wassers hing ein Boot. Es wurde gehalten von rostigen Ketten, die über einen Riegel zu einer gewaltigen Winde geleitet wurden. Neire legte seinen Rucksack ab und zog ein Seidenseil hervor. Er begann sich an den Ketten hinauf in das Boot zu ziehen. Oben angekommen fädelte er ein Ende durch das Scharnier, warf es hinab und begann das andere Ende um seine Brust zu knoten. Als er den sichernden Zug von Bargh spürte, ließ er sich in das Boot hinab. Die alten morschen Bohlen knarzten, als er sich durch den Rumpf bewegte. Auf den ersten Blick konnte er nichts finden. Bei genauerer Betrachtung bemerkte er die verborgene Schatulle, die unter einer Planke eingelassen war. Sie war lang und schmal. Als er sie öffnete sah er das Blitzen von kostbarem Stahl. Er zog einen Degen hervor, der die Runen und Insignien der Familie von Arthog trug. Eine unversehrte Klinge, so scharf wie ein frisch geschliffenes Jagdmesser. Freudestrahlend griff Neire unter die gewölbte Parierstange und führte Waffe. Kaum merkte er das Gewicht des kostbaren Fundes. Nachdem sich Neire wieder hinabgelassen hatte, verließen sie den unterirdischen Hafen und folgten dem letzten Gang, den sie noch nicht erkundet hatten. Er stellte sich als Rundgang heraus, doch in der Biegung des Tunnels war eine aufgebrochene Stelle zu erkennen. Steine lagen dort und ein Geruch von modriger, abgestandener Luft drang in den Tunnel. Sie untersuchten die Stelle und entschieden sich den Tunnel zu erkunden. Der erste Abschnitt war eng. Dann verbeiterte sich der Tunnel im Felsen. Neire hörte aus der Entfernung ein Klopfen, wie von Meißeln und gedämpfte Stimmen. Sie passierten einen abzweigenden Gang, dann konnte Neire, der leise vorschlich, die beiden Kreaturen sehen, die am Ende der Sackgasse hockten. Sie arbeiteten mit ihren Meißeln an einem Loch, das in die Tiefe führte. Die Kreaturen waren klein wie Kinder, hatten eine bläuliche Haut, verkrüppelte Beine und einen fassähnlichen Oberkörper. Ihre deformierten Köpfe offenbarten abgestumpfte, grausame Gesichtszüge. Neires Herz klopfte rasend, als er sich in den Schatten näherte. Er hielt seinen neuen Degen unter dem Tarnmantel versteckt und versuchte keine Geräusche zu machen. Die Kreaturen schienen sich zu streiten und brüllten sich gegenseitig an. Die fremde Sprache konnte er nicht verstehen. Als er in den Rücken der ihm näherstehenden Kreatur kam, zielte er auf das Herz und ließ die Waffe hervorschnellen. Der Degen drang tief in das Fleisch ein und die Kreatur hustete Blut. Eine Welle von Adrenalin und Mordlust elektrisierte Neire. Für einen kurzen Moment dachte er an Lyriell, an ihre Jagdgeschichten aus den Eishöhlen. Doch zu seinem Erstaunen lebte die verletzte Kreatur vor ihm noch. Beide Gegner griffen ihre Steinpicken und machten sich kampfbereit. Alles kam Neire wie in einem Traum vor. Hinter ihm hörte er die schweren Schritte von Bargh. Der erste Streich des Drachentöters zerteilte die bereits verletzte Gestalt fast. Gemeinsam streckten sie den zweiten Angreifer nieder. Jedoch bemerkte Neire, dass das Wesen noch atmete. Er schritt um das Loch, zog seine Kapuze zurück und stellte abfällig seinen Stiefel auf den wulstigen Kopf. „Seht sie an Bargh. Unwertes Leben. Abschaum im ewigen Antlitz unserer Göttin. Sie haben Feuer und Schatten nicht verdient. Selbst der Abglanz ihrer Herrlichkeit ist für sie eine Vergeudung. Sterben sollen sie.“ Neire strich sich die gold-blonden Locken zurück und fixierte die Halsschlagader der Kreatur. Langsam stieß er den Degen nach vorne. Blut quoll hervor und Bargh begann zu grinsen. Dann ließ er den kleinen Leichnam in die Grube rutschen. Es gab ein dumpfes Geräusch und ein Knacken von Knochen, als der Körper den Boden traf. Hinein in ein Grab, dass sie sich selbst geschaufelt hatten.​
 
Sitzung 32 - Die verlorenen Kinder von Raxivort

Leise drang ein zischelndes Flüstern durch den grob gehauenen Tunnel. Neire hatte hinter dem Ledervorhang auf Bargh gewartet. Jetzt tauschten sich beide kurz aus, um ihr weiteres Eindringen in die sich verzweigenden Gänge zu planen. „Bargh, ich habe Stimmen gehört. Wie von einer Ansammlung dieser Kreaturen.“ Kurz war das von gold-blonden Locken umrahmte Antlitz von Neire zu sehen, als er zu Bargh flüsterte. Der große Krieger mit dem roten Rubin im rechten Augensockel nickte schweigsam. Sein Blick galt dem weiteren Tunnel. Neire deutete in den Gang, aus dem er keine Geräusche gehört hatte. „Lasst mich vorschleichen und folgt mir. Sobald Kampfesgeräusche aus meiner Richtung zu hören sind, greift an!“ Ohne weitere Worte hüllte sich Neire wieder in seinen Umhang und verschwand in die Dunkelheit. Auf seinem Weg bückte er sich hier und dort, um nach möglichen Fallen zu schauen. Doch die Gänge waren noch nicht sehr alt. Anscheinend hatten die Kreaturen noch keine Zeit gehabt, hier Fallen anzulegen. Nach ein paar Biegungen endete der Tunnel an einem weiteren Vorhang aus Leder. Dort hinter war eine große Felsenkammer zu sehen – mehr als ein Dutzend Schritte im Durchmesser. Die Kammer war gefüllt mit Fässern und Bottichen. Bündel und Säcke waren hier und dort zu sehen. Ein leichter Verwesungsgeruch ging von der Höhle aus, auf deren gegenüberliegender Seite Neire einen zweiten Ledervorhang bemerkte. Leise schlich er durch die Kammer und lugte hinter den Vorgang hervor. Es tat sich ein weiteres, kleineres steinernes Gemach auf. In chaotischer Unordnung war hier wertloser Plunder aufgeschichtet. Auch in dieser kleineren Höhle versperrte ein Ledervorhang den Ausgang. Als Neire keine Bewegung feststellen konnte, schlich er sich auf die andere Seite. Hinter dem Vorhang sah er einen Gang um eine Ecke hinfort führen. Er entschied sich auf Bargh zu warten. Als der Krieger Jiarliraes schließlich den Raum betrat flüsterte Neire ein weiteres Mal. „Bargh, wartet. Ich werde beide Räume nach verborgenen Ausgängen absuchen.“ Die Schatten, die Neire umhüllten und mit ihm spielten, begannen sich erneut zu bewegen. Er suchte hinter dem Krimskrams, der teils hoch aufgestapelt war. Nichts konnte er finden. Nur einen Moment war er unachtsam. Es gab ein Knacken von Porzellan, als die verstaubte Vase am Boden zerbrach. Augenblicklich spürte er sein Herz höherschlagen. Er erstarrte für einen Moment zu Eis und begann zu horchen. Die gedämpften Stimmen hörte er noch immer aus der Ferne. Doch es war, als ob einige der Stimmen lauter wurde. Dann hörte er Schritte, die sich vorsichtig näherten. Aus dem Tunnel, den sie noch nicht erkundet hatten. „Rasch Bargh! Bewegt euch hinter den Vorhang zurück und wartet auf mein Signal. Ich höre Stimmen.“ Neire schlich auf die Öffnung mit dem Ledervorhang zu. Er kauerte sich dort hin und versuchte lautlos zu verweilen. Lauter und lauter wurden die Schritte. Zuletzt hielt er seinen Atem an und sah zwei weitere dieser hässlichen Kreaturen in den Raum vordringen. Die erste der beiden streifte den Vorhang vorsichtig zur Seite. Die zweite folgte. Beide trugen Knüppel. Gelbliche Augen schimmerten in einer Mischung aus Angst und Niedertracht in der Dunkelheit. Neire wartete noch einen Moment. Als die letzte der nun drei Kreaturen an ihm vorbeischritt, zuckte er hervor und rammte ihr den Degen in den Rücken. Für einen Moment war ein Ächzen zu hören - die Kreatur schnappte nach Luft. Dann sank der fassähnliche Oberkörper leblos zu Boden. Nur einen Augenblick später war Bargh zur Stelle. Er schnellte nach vorn und ließ sein Schwert tanzen. Bevor die Kreaturen Alarm schlagen konnten, hatten Bargh und Neire ihr tödliches Werk vollbracht. Sie blickten abfällig und angeekelt auf die kleinen Leiber, die dort lagen.

Im Rausch des Kampfes wirkte alles so unwirklich. Das Zittern seiner Muskeln war jedoch real und der Tremor wurde immer stärker. Wo verdammt nochmal ist nur Neire, was hat er vor? Bargh versuchte auf die Kreatur zuzugehen, die hier hinter einem weiteren Vorhang erschienen war. Die Gestalt war wie die anderen klein, hatte jedoch ihr Gesicht mit einer rötlichen Farbe kriegerisch verziert. Sie war in einen Waffenrock gekleidet und hatte einen Stab getragen, den sie jetzt fallengelassen hatte. Die Worte, die auf Bargh eindrangen, waren machtvoll und überwältigend. Der Zauberwirkende zeigte auf ihn; starrte hasserfüllt in seine Richtung. Muskeln verkrampften und spannten sich an. Die Kraft wich aus seinen Beinen. Seine Rüstung drohte ihn niederzuwerfen. Je mehr er sich versuchte dagegen zu wehren, desto schlimmer wurde es. Er flüsterte mit schwacher Stimme ein Gebet zu Jiarlirae, als seine Bewegung zum Erliegen kam. Er blickte sich um. Neire… Sie waren in den unterirdischen Tempel der Kreaturen vorgedrungen. Dort hatten sie einen Priester, mehrere weibliche Geschöpfe, Kinder und drei Wachen angetroffen. Er war vorangestürmt und hatte sich den Kriegern gestellt, während er Neire aus den Augen verloren hatte. Dann hatte er bemerkt, dass der Priester, der eine Krone aus Schilf und ein Amulett trug, auf dem eine bläulich-brennende Hand abgebildet war, plötzlich Blut hustete. Die Frauen, die den ansonsten nackten Priester bewundert und hier und dort betastet hatten, wichen in panikerfülltem Entsetzen zurück. Zum Vorschein kam der Degen von Neire, der die Brust des höchsten Tempeldieners von hinten durchdrungen hatte. Für einen Moment waren die Schatten um die große Statue aus Schilf länger geworden. Als ob die schwache Gottheit dieses Schicksal nicht akzeptieren würde. Dann war der Leib leblos zu Boden gesunken. Neire war wieder in den Schatten verschwunden. Zuletzt hatte Bargh gesehen, dass eines der flüchtenden Kinder aus der wabernden Dunkelheit von einem Degen aufgeschlitzt wurde. Die Worte vor ihm wurden jetzt lauter. Er drohte auf die Knie zu sinken, konnte die Last nicht mehr halten. Doch dann stockten die rhythmischen Verse. Die Geräusche wurden zu einem Gurgeln und verstummten in dem Maße, wie er an Kraft zurückgewann. Wieder sah er Neire, der die Kreatur von hinten mit seinem Degen niedergestreckt hatte. Für einen kurzen Moment konnte er den von blonden Locken eingerahmten Kopf sehen, der zwischen den Schatten auftauchte. War es für ihn jetzt ein Spiel? Wo war die Angst, die Verzweiflung des Kindes der Flamme hin?

„Bargh, steh auf. Wir müssen weiter. Ich habe das Symbol des Priesters entschlüsselt. Es ist eine alte, aber schwache Gottheit, die sie anbeten. Raxivort. Der Diener eines Dämonenfürsten. Er wachte einst über die Schätze der Hölle. Dann raubte er, was er mitnehmen konnte und floh. Um der Wut des Herrschers der Hölle zu entgehen, schuf er diese Rasse nach seinem Abbild als seine Kinder. Die Xvart. Er tarnte sich fortan als einer der ihren, in einer schier endlosen Menge.“ Neire zischelte die Worte eindringlich. Er blickte auf seinen Begleiter. Bargh kniete zwischen einem knappen Dutzend toter, kleiner Leiber. Es waren die Krieger dieses unterirdischen Volkes, die sich Welle um Welle gegen sie gestellt hatten. „Ich… ich kann nicht. Es sind die verhexenden Worte dieser bemalten Kreatur gewesen, die mir meine Kraft geraubt haben.“ Neire legte jetzt seine verbrannte Hand auf die Schulter des Kriegers. „Wir müssen weiter, ihr solltet mir vertrauen wie einem Freund, gehorchen wie einem Bruder, der für euer besseres Werden strebt. Denkt an die Geheimnisse von Feuer und Schatten.“ Der Ton in Neires Stimme war gefährlich. Immer wieder wich er auf Worte der fremden Sprache von Nebelheim aus. Er sah wie Bargh langsam seinen verbrannten Kopf in seine Richtung drehte. Er spürte die Freundschaft, die unerbittliche Kameradschaft, doch auch irgendeine Art Furcht vor ihm. „Neire, ihr sprecht von einem Bruder. Wo ist die Maske, die mir dieser Bruder versprochen hat?“ Bargh erhob sich bei diesen Worten ächzend. „Die Maske ist nicht vergessen. Wir werden sie gemeinsam erschaffen. Doch es muss von euch kommen Bargh. Was sollen die weiteren Bestandteile sein?“ In diesem Moment sah Neire für einen Moment den Wahnsinn in Barghs gesundem Auge; er gierte nach der Weisheit der Göttin. „Das schwarze Juwel aus der Sphäre der Dunkelheit. Es soll das rechte Auge der Maske werden.“ Für einen kurzen Moment vergaßen sie beide die Umgebung um sich. Neire nickte in einer fast feierlichen Art. Die Idee von Bargh war so einfach, wie sie grandios war. Das schwarze Juwel sollte das Auge der Maske werden. Die lebendige Dunkelheit sollte den fleischverwachsenen Feuerkristall berühren.​
 
Sitzung 33 - Die verlorenen Kinder von Raxivort II

Bargh blickte durch die mit Unrat beschmutzte Wohnhöhle der Kreaturen. Sie hatten die mit Blut bedeckte Kammer hinter sich gelassen und dem Haufen von Leichen keine weitere Beachtung geschenkt. Neire hatte ihm gesagt, er habe Geräusche gehört. So war er dem Jüngling gefolgt, in der Annahme, dass zu jeder Zeit ein weiterer Angriff über sie kommen könnte. Doch nichts dergleichen war passiert und sie hatten schließlich die Frauen und Kinder gefunden, die sich in eine Ecke des Gewölbes kauerten. Die Frauen schienen wie gelähmt von einer Panik und drückten ihre Kinder an die Steinwand hinter sich. Bargh war sich auch hier nicht sicher, ob mit einem Hinterhalt zu rechnen war. Er blickte sich abermals um. Die Höhle hatte mehrere Ausgänge. Von der Mitte war ein Glühen eines Kohlefeuers zu sehen, über dem ein großer gusseiserner Kessel stand. Seitlich davon konnte er zwei Gruppen von verrotteten Sitzgelegenheiten ausmachen – aber keine Bewegung. Plötzlich bemerkte er eine Regung vor sich. Er griff bereits nach seinem Schwert als er sah, dass die gold-blonden Locken von Neire zum Vorschein kamen. Wie aus dem Nichts war der junge Priester aus den Schatten aufgetaucht. Gelbliche Augenpaare blickten nun nicht mehr in seine Richtung, sondern zu Neire, der seinen Tarnmantel ablegte. Ein Weinen und Zischeln war zu hören, wie auch ein Krächzen goblinoider Wortfetzen, die Bargh nicht verstehen konnte. Die Frauen und Kinder waren jetzt dicht aneinandergedrängt – ein Haufen winselnder, in Lumpen gekleideter Gestalten, deren nackte Haut in blau-rötlichen Tönen in der Dunkelheit schimmerte. Ihre deformierten Schädel, ihre fassähnlichen Oberkörper, waren bereits den Kindern anzusehen, die ihren Müttern in der Hässlichkeit um nichts nachstanden. „Ergebt euch! Kniet euch nieder und euch wird nichts geschehen.“ Die Stimme von Neire frohlockte in einem seltsamen zischelnden Singsang der gemeinen Sprache der Oberwelt. Wimmern und Weinen schienen lauter zu werden, die Panik nahm zu. Doch Bargh spürte nur aufkommenden Zorn und eine tiefe Wut. Was gibt er sich mit diesen Kreaturen ab? Wir sollten sie alle töten und keine Zeit verschwenden. Sie sind es nicht wert. Er sollte an meine Maske denken. Ein Pulsieren kam von seinem rechten Auge; dort wo der Rubin mit dem Fleisch des leeren Sockels verwachsen war. „Bitte… bitte… Gnade, am Leben lassen, Herr… Gnade… leben lassen.“ Bargh konnte in dem Winseln tatsächlich Sprachfetzen hören. Einige der Frauen hatten sich auf die Knie begeben und reckten ihre Hände flehend empor. Jetzt sah er wie sich Neire zu ihm umdrehte und ihn angrinste. „Bargh, nehmt das Seil und fesselt sie. Hände auf den Rücken.“ Seine Wut nahm etwas ab. Er ahnte, dass das Neire irgendetwas mit den Gestalten vorhatte. So schritt er zu dem Knäul und begann die kleinen Leiber zu fesseln. Der Gestank, der von diesen ausging, war kaum auszuhalten. Nur aus den Augenwinkeln sah er, dass Neire sich am Kessel zu schaffen machte und kleine Holzschalen mit dampfendem Brei füllte. Doch da war etwas, das der junge Priester in die Schalen streute. Er konnte es nicht genauer sehen. Als er die Kreaturen an einer Wand aufgestellt hatte, brachte Neire den Brei. „Esst… leben lassen. Gnade. Esst! Raxivort will es so.“ Neires Stimme war freundlich doch bestimmend. Bargh sah, dass er auf die Schalen zeigte. Zögerlich fingen die Frauen an zu essen. Doch ohne ihre Hände war es vielmehr ein tierisches Fressen, wie aus Näpfen. Gierig stürzten sie sich über den Brei. Ihren hungrigen Kindern schenkten sie keine Aufmerksamkeit mehr, drängten sie gar zur Seite. Erst als die letzte Schale ausgeleckt war, hoben sie ihre Köpfe und ließen sich auf einen Kniesitz sinken. In diesem Moment sah Bargh seinen jungen Kameraden zufrieden nicken.

„Nun warten wir Bargh. Wir warten und wir werden sehen, welch Schicksal die Schatten der Göttin weben.“ Neire keuchte. Das Schleppen von verschiedensten Holzstücken war anstrengend. Der Haufen in der Tempelhöhle hatte mittlerweile eine beachtliche Größe erreicht. Sie hatten das Holz aus allen Teilen des Komplexes herangeschafft, nachdem sie den Rest der unterirdischen Tunnel und Hallen durchsucht hatten. Tatsächlich hatten sie keine weitere Kreatur mehr angetroffen. Dann hatten sie die Frauen und Kinder in die große Höhle mit den rötlichen Steinwänden gebracht und mit ihrer Arbeit begonnen. Neire wischte sich den Schweiß von der Stirn und drehte sich zu den Frauen und Kindern um. Die Frauen lagen und saßen vor der Felswand. Teilnahmslos starrten ihre Blicke in die Ferne. Aus ihren breiten, mit scharfen Zähnen besetzten Mäulern drang weißlicher Geifer hervor – zog lange Sabberfäden. Selbst auf die immer wieder klagenden und flehenden Versuche der Kinder, mit ihren Müttern zu kommunizieren, zeigten sie keine Reaktionen. Es war, als ob ihr Geist in eine Traumwelt abtaucht war. Neire konnte nur erraten was sie dort sahen. Der bunte Vierling hatte jedenfalls seine volle Wirkung entfaltet. Neire hatte heimlich einen halben Pilz der grünen Sorte kleingeschnitten und ihn für jede der Frauen in den Brei gemischt. Schon nach kurzer Zeit hatte sich der Drogenrausch angekündigt. Dann waren die Frauen nicht mehr ansprechbar gewesen. Er drehte sich um zu Bargh, dem der Schweiß in Strömen vom vernarbten Haupt rann. „Bargh, lasst uns die drei Leichen hierhinziehen. Dann ist die Statue dran.“ Neire zeigte auf das gesteckte Konstrukt aus Schilf, das rudimentär ein übergroßes Abbild der Kreaturen darstellte. Sie zogen die leblosen Körper des Anführers, des Zauberkundigen und des Priesters heran und setzten sie aufrecht an die drei von der Statue abweisenden Seiten des Holzhaufens. Dann widmeten sie sich der Statue. Es gab ein Knistern und Knacken von Schilf, als die Statue nach vorne fiel. Sie kam auf dem großen Haufen zu liegen. Jetzt mussten sie mit dem Ritual beginnen. Neire trat an Bargh heran und reichte ihm einen Weinschlauch. „Trinkt, Bargh. Wir müssen eins werden mit Flammen und Schatten. Unser Geist soll scharf sein. Hell und aufopferungsvoll erweitert.“ Er sah wie Bargh gierig trank und öffnete das geheime Fach am Ende seines alten Degens. Dort glänzte der Grausud, den er aus Nebelheim mitgebracht hatte. Er reichte Bargh eine kleine Fingerkuppe davon. „Nehmt etwas von dieser alten Substanz. Es wird euch helfen. Und ihr werdet Dinge sehen - der Göttin näherkommen.“ Auch er trank von dem Wein und nahm eine Fingerspitze Grausud zu sich. Augenblicklich war der Kampf und die Umgebung um ihn herum vergessen. Für einen Moment schossen farbige Blitze durch sein Blickfeld und vermischten sich mit einem warmen, durchströmenden Gefühl, das bis in seine Extremitäten drang. Er sah die Farben lange glühende Fäden ziehen, als ob die Welt um ihn herum wunderbar verlangsamt wäre. Fast in Trance entblößte Neire seinen Oberkörper. Er wies Bargh an dasselbe zu tun. Dann stülpten sie sich die Masken über. Seine war die aus Nebelheim. Eine Feuerschlange, mit Gold und Juwelen verziert. Die Maske von Bargh war die Haut des skalpierten Pumas, die sie noch nicht weiter bearbeitet hatten. Als Neire nach der Farbe griff, die sie in den Höhlen gefunden hatten, glaubte er eine Präsenz zu spüren. Es war wie ein Sprechen von Schatten oder vielleicht die ätherische Stimme von Bargh. Er sah die Muster im Stein, die Farben. Doch sie bewegten sich nicht. Etwas fehlte. Sie verwendeten die weiße Farbe, um die Runen von Jiarlirae auf ihre eigenen Oberkörper zu zeichnen. Dabei sangen sie die alten Gebete Nebelheims. Dann führten sie die gefesselten Gestalten vor den Holzhaufen. Die Frauen gingen teilnahmslos mit, doch die Kinder schienen in eine wilde Panik zu verfallen. Bargh hatte zuvor jedes Kind an jeweils eine Frau gefesselt. Insgesamt waren es sieben Frauen mit einem Kind und eine Frau mit zwei Kindern. Vor dem Haufen rissen sie den Gestalten die Lumpen vom Leib. Neire nahm die rote Farbe und begann alte Runen auf die Oberkörper der Kreaturen zu zeichnen. Dabei sang er die Verse des Chorals an die Schwertherrscherin:

„Preiset die schwarze Natter, als ein Abbild unserer Göttin, deren Name Jiarlirae ist. Weinet nicht um die verglimmenden Feuer, weinet nicht um die erlischende Glut, die Glut von Nebelheim. Denn die Dunkelheit birgt ihre Ankunft, Schatten ist das Licht unserer Göttin und Flammen der Morgen ihrer Heiligkeit.“

Als das Werk vollbracht war führte Bargh die einzelnen Paare der Kreaturen auf das Schilf hinauf. Teils sträubten sich die Kinder, doch sie waren tollpatschig und fast beraubt ihrer Kraft. Sie schrien noch immer aus vollen Kehlen. Doch die Schreie hörte Neire kaum. Seine Sinne waren betäubt von tanzenden Farben und einem dunklen, chaotischen Rauschen. Er wähnte sich wieder in Nebelheim, im Inneren Auge. Er spürte die Hitze, die aufsteigende Glut, das brodelnde Chaos. Die sich ewig verändernden Formen und Muster in der Tiefe. Er hörte die Stimmen aus weiter Ferne, das Flüstern in Schatten und flüssigem Stein. Als er die Fackel anzündete begann er singen:

Die weiß-rot-schwarze Flamme steht über dem schwachen Gott, deren Kinder sich gierig dem Opfer hingeben. Sie huldigen Euch Danuar'Agoth, sie huldigen Euch… Ihr tut was Ihr möchtet, sie reihen sich ein, sie sollen Euch grün-rot-goldenes Opfer sein. Oh Hemia-Galdur, oh Hemia-Galdur… Bewegen sich Schatten in Feuers Bann, auf dass sich die Heldin erheben kann, Oh Asmar’fana, oh Asmar‘fana. Der Henker der Ödnis, so kommet hervor, sein Frohlocken sich nicht mehr im Winde verlor, im heulenden Winde, oh Vocorax'ut'Lavia.“

Nach jedem Vers zündete Neire eine der Ecken des Scheiterhaufens an. Schon rasch züngelten die Flammen empor und ein wohliger Schein begann mit den Schatten zu spielen. Doch da waren wieder die Schreie. Auch einige der Frauen setzten in den Chorus der Todesangst ein, als die ersten Flammen an ihnen leckten. Neire wurde wie aus einem Traum gerissen. Er spürte Wut. Können sie nicht ihr Schicksal genießen? Sie werden eins mit Feuer und Schatten. Was kann es denn Schöneres für sie geben? Für einen Moment vergaß Neire sein Ritual und äffte die Stimmen in kindlicher Manier nach. Dann bemerkte er, dass Bargh wie gebannt in die Flammen schaute. Licht und Schatten neckten sich teuflisch auf seiner weiß getünchten Tiermaske. Das Bild eines Ritters einer alten Hochkultur, der nun Teil eines archaischen Opferkultes geworden war. Jetzt fing Neire an zu tanzen. Er spürte die Flammen und die Dunkelheit. Das was zuvor gefehlt hatte, waren die Flammen gewesen. Sie waren jetzt bei ihm. Er spürte die Geheimnisse, die auf ihn warteten. Und er spürte Sie, seine Schwertherrscherin, Jiarlirae. Sie war hier.

Das Pochen war dumpf. Neire schlug dreimal mit dem Knauf seines Degens an die Türe. Der Regen prasselte auf ihn hinab. Um ihn herum und durch die Schlieren des Schauers konnte er die hölzernen Häuser von Kusnir sehen. Hinter ihm wartete Bargh im Sattel seines Pferdes. Neire wollte sich bereits umdrehen, da hörte er die dumpfen Schritte jenseits der Türe. Es gab das Knirschen eines Schlüssels und die Pforte wurde aufgezogen. Im Licht einer getragenen Lampe sah Neire den Dorfvorsteher, der so griesgrämig wie eh und je dreinschaute. „Kurst. Wir sind zurückgekehrt. Und wir haben euren Skulk erschlagen. Jetzt wollen wir unsere versprochene Beute.“ Kurst hatte ihn anscheinend wiedererkannt und in Erinnerung an die vergangene Nacht sein Gesicht verzogen. Doch nun hellte sich seine Miene auf. „Ihr habt das Wesen getötet? Das Wesen, das unser Dorf heimgesucht hat? Sagt wie sah es aus? Was habt ihr gesehen?“ Neire erinnerte sich zurück. Er war um den Scheiterhaufen getanzt, bis dieser heruntergebrannt war. Dann hatten sie ihre Sachen zusammengesucht und waren aufgebrochen. Sie hatten einen versteckten Ausgang gefunden, doch Neire hatte ein Wimmern gehört. In einer weiteren, bis dahin unentdeckten Höhle, hatten sie ein Wesen gesehen. Die Kreatur war sichtlich im Zustand der geistigen Verrücktheit gefangen und schien harmlos. Ihr haarloser Körper war ausgemergelt, doch drahtig gewesen. Ihre Haut hatte hier und dort die Töne von Stein angenommen, ähnlich dem Tarnumhang, den Neire trug. An ihrer Hand hatte die Gestalt einen weißen Handschuh getragen, über dessen Ringfinger ein goldener Ring steckte. Neire hatte die Kreatur aus den Schatten heraus getötet. Er hatte für einen kurzen Moment das Gefühl gehabt, dass etwas in seinen Kopf eindringen würde. Er hatte den Handschuh auf alte Flüche hin untersucht und festgestellt, dass diesem eine Art Intelligenz innewohnte. Eine Intelligenz die ihnen nicht wohlgesonnen war. So hatte er den Arm der Gestalt mit einigen Hieben vom Körper getrennt und ihn Bargh gegeben, der ihn in seinem Rucksack verstaut hatte. Als Neire Kurst vom Aussehen der Kreatur erzählte, änderte sich die misstrauische Miene des Alten nicht. „Vertraut ihr mir nicht, Kurst? Wir haben sogar seine Hand abgeschlagen. Die Hand des Skulks mitsamt…“ In dem Moment hörte er das Räuspern von Bargh. „Wir haben sie hier Kurst. Ich kann sie euch zeigen.“ Bargh sprach mit lauter Stimme durch den Regen und lenkte sein Pferd einige Schritte näher. Doch Neire sah bereits wie Kurst ängstlich lächelte und einen Schritt hinter die Schwelle zurückwich. „Nein… ähm… ich glaube euch. Die Hand abgehackt… wie fürchterlich. Wartet hier. Ich hole euch eure versprochenen Schätze.“ Es dauerte einige Zeit bis Kurst mit einer kleinen Schatulle von Juwelen zurückkam. Als er sie Neire übergab, begann er erneut zu sprechen. „Ihr müsst wissen, dass wir fähige Krieger wie euch hier gebrauchen können. Ihr seid in Kusnir immer willkommen. Gerade jetzt in diesen Zeiten. Seit einigen Tagen gab es keine Händler mehr, die den Pass überquerten. Und gerade das war doch eine sichere Route. Die Adlerburg schützt dort den Weg.“ Neire hörte interessiert zu, bei den Nachrichten des Alten. Doch innerlich blickte er auf Kurst hinab. „Kurst, eures Glückes Schmied müsset ihr selber sein. Die Schwachen verblassen in den Geschichten. Auf andere solltet ihr euch nicht verlassen.“ Er sah, dass Kurst für einen Moment nachdachte, bevor er antwortete. „So wie wir uns auf euch verlassen haben, Neire? Ihr habt uns vor dem Skulk gerettet.“ Neire knirschte mit den Zähnen. In diesem Moment hätte er Kurst am liebsten hier und jetzt ermordet. Doch wer war er schon? Ein Kind der Flamme. Fremd in der Oberwelt und fremd in ihren menschlichen Bräuchen. Er drehte sich wortlos um. Dieses Mal hatte der alte Mann gewonnen. Doch er würde wiederkommen. Er würde wiederkommen und die Welt würde brennen.​
 
Sitzung 34 - Aufbruch zur Adlerburg

„Mensch, bringt mir Fleisch vom Spieß und Bier!“ Bargh hörte die zischelnde Stimme der Intonation eines fremden Dialektes. Die Worte von Neire trugen eine tiefe Forderung, die ihr Ziel in Form eines aggressiven Gebärdenspiels heimsuchte. Für Bargh wirkte die Szenerie belustigend. Er spürte noch immer ein bedrückendes Gefühl durch den Exzess des letzten Abends. Sie waren nach ihrer Rückkehr in das Gasthaus von Kursnir eingekehrt. Sie hatten größtenteils schweigend Bier um Bier getrunken. Mehr von dem faden Getränk, als es dem Anlass entsprochen hatte. Doch auch jetzt spürte Bargh die Auswirkungen des Grausuds – der seltsamen Substanz von der ihm Neire am gestrigen Tag eine Kostprobe geben hatte. Mit jedem Schluck Wein den er trank wurde die Wirkung wieder stärker. Als ob die Substanz eine Art Gedächtnis hätte, das nur aktiviert werden musste. Die Farben waren nun schon blendend und betäubend. Die Bewegungen zogen strahlende Fäden. Bargh nahm den Schankraum vernebelt war. Morgendliches Licht drang durch die Fensterläden und brachte Profanes zum Glitzern. Selbst Staubkörner blitzen wie kleine Sterne. Er schmunzelte. Da war die fettleibige Gestalt von Walfor, mit der Neire sprach. Die Szene hatte für ihn eine ihn eine Art Distanz, die der Rauschzustand erschuf – ähnlich einer Theatervorführung. „Junger Herr, wir haben kein Fleisch, keinen Spieß. Alles leer, alles aufgegessen. Nur Brot und Schmalz, junger Herr.“ Bargh beobachtete, wie sich Walfor vor Neire verbeugte, als ob er das fehlende Fleisch des Spießes entschuldigen wollte. In dem von Öllampen erhellten Raum, der von vier Holzpfeilern getragen wurde, war die fettleibige, glatzköpfige Gestalt mit der ledernen Schürze eine beindruckende Erscheinung. Der Wirt des Gasthauses strahlte eine Art natürliche Unsicherheit aus, die nur durch seine Gewohnheit und durch die Wiederholung seiner Aufgaben überspielt wurde. Bargh sah, wie sein jugendlicher Begleiter sein Haupt schüttelte. Neire hatte sich am Morgen gewaschen und seine gold-blonden Locken schimmerten noch nass im Zwielicht. „Nein Mensch, ich will Fleisch. Schlachtet mir ein Tier und bringt mir den Spieß. Verliert keine Zeit.“ Bargh sah, dass Walfor anfing zu zittern, als Neire gesprochen hatte. Das Doppelkinn des überwichtigen Wirtes bildete lange, schwabbelnde Falten, als er sich in Gedanken zurückzog. „Nur Brot und Schmalz, junger Herr. Nur Brot und Schmalz. Wir haben nichts anderes. Esst, es ist gut, esst.“ Bargh sah, dass Neire nickte. Sein jüngerer Begleiter gab dem Wirt weitere Anweisungen, die dieser stupide wiederholte. Zudem war da der Hass in den Augen des jugendlichen Priesters, als Walfor den Wunsch seines Begleiters verneinte. Nachdem er mit Neire wieder allein am Tisch war, erhob er das Wort. „Neire, glaubt ihr, dass Walfor uns die Speisen vorenthält?“ Bargh gluckste. Er sah, wie Neire sich bei seiner Frage umdrehte und Walfor beobachtete. Er winkte ihn tatsächlich heran. Sie aßen mittlerweile vom Schmalz und tranken das fade Bier. „Walfor, das ist gut. Habt ihr das selber gemacht? Was ist Schmalz?“ Bargh bemerkte, wie das Gesicht von Walfor bei der Frage zu zucken anfing. Seine Gesichtsmuskeln drückten anscheinend seine fehlende geistige Kapazität aus. Wellen dieser Zuckungen breiteten sich über sein gewaltiges Doppelkinn aus. „Was meint ihr Junger Herr? Das ist Schmalz. Gemacht von Walfor. Walfor machen Schmalz. Wie immer.“ Bargh lachte laut auf. Er mochte den Wirt. Er hatte eine lange Zeit nicht einen solch nützlichen Idioten gesehen. Damals in Fürstenbad ja, aber das war eine andere Geschichte. Wieder erhob Neire das Wort. „Ja, Walfor, ich habe verstanden. Ihr spielt ein Spiel mit uns. Wir wollen aber ein Spiel mit euch spielen. Ihr sollet tanzen für uns. Ihr sollet euch im Kreise drehen und uns von eurem Schmalz erzählen.“ Bargh spürte den Hass, den Neire mit seinen Worten flüsterte. Doch Walfor, gesegnet mit einer überraschenden Einfältigkeit, blickte Neire mit großen Augen an. „Ist das ein Spiel junger Herr? Tanzen kann ich, ja sehr gut. Walfor kann tanzen. Ja…“ Bargh sah, das Walfor seinen massiven Körper an ihren Tisch drückte. „Ja, ein Spiel. Mensch. Ein Spiel in dem ihr reich werden könnt.“ Bargh lehnte sich zurück. Er beobachtete die Szene und bemerkte, dass Neire einige Silbermünzen hervorzog. Neire ließ diese auf den Tisch fallen. Für einen kurzen Moment füllte ein klingendes Geräusch die karge Halle. „Wie viele Münzen sind diese, Walfor. Nennt mir die Zahl, doch wagt nicht zu zählen.“ Bargh blickte auf die schimmernden Geldstücke, die auf den Tisch fielen. Sie hatte eine seltsame Prägung. Runen und ein Schlangenmuster. Bargh begann automatisch die Münzen zu zählen. Es herrschte für einen kurzen Moment eine Stille, bevor Neire erneut sprach. „Mensch, ihr schummelt. Ihr sollt nicht zählen. Ihr sollt mir nur eine Zahl nennen.“ Tatsächlich hatte Bargh bereits die Zahl der Münzen auf Acht bestimmt. Walfor hatte derweil seinen gewaltigen Bauch an den Tisch gedrückt und versuchte anscheinend die Münzen zu zählen. „Nennt uns eine Zahl. Und schummelt nicht. Ihr sollt nicht zählen.“ Der dicke Mann sah seine Chance, doch er zählte noch weiter. Mit seinem Mund machte er lautlose Bewegungen. Erst dann nannte er eine Zahl. „Drei Münzen. Drei sind es“. Bargh sah Neire lachen und stimmte ein. Mittlerweile hatte er sein Bier getrunken und genoss die Vorstellung in seinem Zustand der Trunkenheit. „Das ist falsch und ich habe gesehen, dass ihr geschummelt habt.“ Für einen Moment war das Lachen hinfort. Bargh blickte wieder zu Neire, der Walfor musterte. „Wir spielen ein anderes Spiel. Dreht euch für jede Münze einmal im Kreis. Acht Mal!“ Diesmal reagierte Walfor mit einem zurückgebliebenen Grinsen. „Ich mag eure Spiele junger Herr und ich kann sehr gut tanzen. Sehr gut tanzen kann ich.“ Walfor begann sich tatsächlich im Kreis zu drehen. Seine Bewegungen waren flapsig und träge. Sein Fett schwabbelte asynchron im Schritt seiner Bewegungen. Bargh war von dem Schauspiel wenig angetan und fragte sich, wie lange der fettleibige Schwachsinnige ihnen noch etwas vorgaukeln solle. Als Walfor eine weitere Drehung machte, war es ihm zu viel. Er gab Walfor einen kräftigen Tritt in den Hintern. Der ungeschickte, übergewichtige Wirt stolperte und fiel mit einem dumpfen Geräusch zu Boden. In diesem Moment sah Bargh Neire hervorspringen, der seinen Degen zog und sich über Walfor beugte. „Ihr habt doch geschummelt, Mensch. Ihr seid Abschaum. Ein Spielverderber. Ich könnte es jetzt beenden, euer armseliges Leben.“ Bargh spürte die Gewalt die Neire ausübte. Er hätte den Wirt gerne selber getötet, doch er sah, dass Walfor anfing zu weinen. Die fettleibige Gestalt rollte sich auf dem Boden zusammen, unfähig andere Dinge wahrzunehmen. Als Bargh sich langsam erhob und das Gasthaus verlassen wollte sah er, dass Neire die Münzen vom Tisch hob. Er ließ sie langsam auf Walfors zitternden Körper hinabfallen.

„Schaut dort. Verbrannte Gebäude. Ist das Gannwegen?“ Neire zeigte auf Ruinen in der Ferne. Von einigen Häusern stieg noch dunkler Rauch auf. Ihre beiden Begleiter konnten die Gebäude anscheinend noch nicht sehen. Sie waren ohne Pferde und nur die erhöhte Sitzposition machte Neire den Blick möglich. Die beiden Söldner hatten sie ein Stück hinter Kusnir getroffen. Beide hatten gerade mit Kurst gesprochen. Die beiden hatten vom Dorfvorsteher ein Säckchen mit Münzen erhalten und waren mit den Worten verabschiedet worden, in Gannwegen und der Passstraße Adlerweg nach dem Rechten zu schauen. Da Barghs und Neires Weg auch in diese Richtung führte hatten sie sich den Söldnern angeschlossen. Auf Neires Frage hin, wem sie dienen würden, hatte der ältere der beiden mit, wir dienen dem Herrn der Münze geantwortet. Neire hatte sie seitdem Sklaven der Münze genannt. Jetzt schienen beide beunruhigt und zogen ihre Kurzschwerter. Der Ältere von beiden hatte kurzes braunes Haar und nannte sich Rognar. Er trug wie sein jüngerer Begleiter Wulfgar ein Lederrüstung. Wulfgar machte den aufgeweckteren Eindruck. Der Söldner hatte lange blonde Haare, die bis zu den Schultern hinabfielen. Er drehte sich zu Neire um. „Das kann nur Gannwegen sein. Ein kleines Dorf von Holzfällern.“ Neire blickte nochmals in die Richtung. Der bewölkte Himmel hatte sich über den Vormittag etwas gelichtet. Jetzt sah er das Tal vor sich aufragen, das sich in eine Landschaft von schroffen Bergen hin verjüngte. „Dann lasst uns nach Gannwegen reiten und dort nach dem Rechten schauen.“ Sprach Bargh und setzte sein Pferd in Bewegung. Neire folgte ihm. Auch die beiden Söldner bewegten sich vorwärts. Eine unruhige Anspannung lag auf ihren Gesichtern. Als sie nach einiger Zeit an den ersten Gebäuden vorbeikamen, sahen sie die verkohlten Leichen. Einigen waren Gliedmaßen abgehackt worden. Andere trugen Spuren eines Kampfes. Es war keine Bewegung zwischen den Häusern zu sehen, die noch nicht lange abgebrannt waren. In der Mitte des Dorfes fanden sie einen Leichnam der anders beschaffen war. Die Kreatur war nicht menschlich, doch von humanoider Gestalt. Sie hatte ein Fell und den Kopf eines Hyänenwesens. Bargh erinnerte sich an den Kampf in der verlassenen Feste, der Gundaruk fast das Leben gekostet hätte. Die Kreaturen, denen sie dort begegnet waren sahen dieser hier sehr ähnlich. Während Neire noch nachdachte, lenkte Bargh sein Pferd an das seinige heran. „Neire, ich habe am Rande des Dorfes Spuren entdeckt. Spuren von diesen Kreaturen. Sie führen in diese Richtung.“ Bargh zeigte auf die Berge in der Ferne. „Das kann nicht sein. Dort befindet sich die Adlerburg, die das Tal und den Pass bewacht. Eine ganze Schar berüsteter Wachen befindet sich in der Burg.“ Neire blickte sich um. Die zweifelnde Stimme kam von Wulfgar, der ihrem Gespräch anscheinend gelauscht hatte. „Zweifelt ihr meine Worte an?“ Bargh hob seine Armbrust ein Stück höher, als er zu Wulfgar sprach. „Äh… nein, Herr Drachentöter. Ich meine nur… die Adlerburg und diese Kreaturen. Das passt nicht zusammen. Wir müssen Kurst Bericht erstatten.“ Neire gefiel das nicht. Sie wollten sich anscheinend davonstehlen und Hilfe holen. Er flüsterte Bargh zu. „Sie sollen mit uns kommen oder sie sollen sterben.“ Bargh nickte und baute sich auf seinem Pferd auf. Seine Stimme war jetzt laut und bestimmend. „Nein, ihr werdet mit uns kommen. Wir werden der Sache nachgehen. Ihr untersteht jetzt meinem Kommando. Schließt euch uns an. Befehlsverweigerung wird mit dem Tode bestraft.“ Für einen kurzen Moment herrschte eine beklemmende Stille. Alle hatten ihre Waffen gezogen. Dann nickte Rognar. „Gut dann werden wir mit euch kommen. Wir werden uns eurem Befehl nicht verweigern, Herr Drachentöter.“ Neire konnte das Missfallen in den Augen der Söldner sehen, als Rognar sprach. Bargh nickte und zeigte in Richtung der dunklen Berge. „Wir brechen sofort auf. Unser Weg führt uns zur Adlerburg.“ So ließen sie die verbrannten Ruinen von Gannwegen zurück und folgten weiter dem Adlerweg, in Richtung der Höhen.​
 
Sitzung 35 - Ein Fest ohne böses Erwachen

„Dort seht. Die Burg… Das muss die Adlerburg sein.“ Neire ließ für einen Moment die Zügel fallen und zeigte mit seinem rechten Arm auf das imposante Bauwerk, welches das kurvige Tal überragte. Die Wolken waren schon seit den Vormittagsstunden aufgebrochen und jetzt schimmerte die Mittagssonne über einem klaren blauen Himmel. Die faszinierende Bergwelt offenbarte die alte Trutzburg, die sich an den Stein der Felswand klammerte, gar mit ihm verwachsen zu sein schien. Über einem gewaltigen Fundament waren mehrere Ebenen zu sehen. Eine Wehrmauer und Türme. Neire ließ seinen Blick für einen Moment auf dem Bauwerk ruhen, dann musterte er die Söldner Rognar und Wulfgar, die vor ihnen gingen. Die beiden schienen den Fußmarsch am gestrigen Tage gut verkraftet zu haben. Die Unterkühlung, die ihnen in den Morgenstunden anzusehen war, hatten sie durch ihre Bergwanderung hierher überwunden. Nachdem sie Gannwegen am letzten Tag verlassen hatten, waren sie dem Adlerweg gefolgt, der sie entlang des Tales immer höher in die Berge geführt hatte. Schließlich war der Abend hereingebrochen und sie hatten an einer Felswand ihr Lager aufgeschlagen. Am Abend hatte Bargh dann einen Weinschlauch herumgehen lassen. Sie hatten zuerst schweigend getrunken. Doch dann hatten Wulfgar und Rognar einige alte Geschichten erzählt. Besonders Rognar war dem Wein zugeneigt gewesen und war am nächsten Morgen nur schwer wach geworden. Neire hatte in den frühen Stunden mit Bargh zu seiner Göttin gebetet, die er nach außen hin als Heria Maki anpries. Natürlich hatten sie die Verse an die Schwertherrscherin gerichtet. Doch Wulfgar und Rognar schienen sich nicht mit den alten Göttern auszukennen, noch hatten sie daran gedacht mit ihnen zu beten. Nach einigen weiteren Stunden des Fußmarsches hatte sich ihnen dann der Blick auf die Adlerburg eröffnet. „Ja, das ist die Adlerburg. Was sagt ihr dazu, Herr Drachentöter? Ein Bollwerk gegen die Küstenlande.“ Rognar streckte beim Sprechen seine Brust hervor. Sein Stolz um das alte Herzogtum Berghof war so offensichtlich, wie die Falten seines Gesichtes sein fortschreitendes Alter verrieten. Neire blickte zu Bargh, doch der grummelte nur etwas vor sich hin. „Wir sollten vorsichtig sein. Vielleicht befinden sich die Kreaturen, die Gannwegen verwüstet haben in der Burg.“ Sprach Neire und blickte von seinem Pferd zu Rognar hinab. Dieser fing augenblicklich an zu lachen. „Mein Junger Herr… ihr müsst wissen… Die Adlerburg, sie ist uneinnehmbar!“ Wieder war da der Stolz in seinem Gesicht und eine tiefe Zuversicht. Neire nickte und sprach. „Dennoch sollten wir vorsichtig sein. Lasst mich die Burg auskundschaften und wartet hier, was sagt ihr Bargh?“ Als Bargh nickte, sattelte Neire ab und begann den ausgetretenen und abgewetzten Adlerweg entlangzuhuschen. Hinter einer Felsnadel warf er sich den Tarnumhang über und verschmolz mit den Schatten. Obwohl die Sonne hoch stand, waren die Felsen steil. So konnte er immer wieder den notwendigen Schatten finden, in dem er sich sicherer fortbewegte. An einer Gabelung des Weges nahm er die linke Abzweigung, die über Stufen im Felsen zur Burg hinaufführte. Der Weg wandelte sich schnell in einen Stieg und dann in einen Hohlweg, der durch hohe Felsen führte. Schließlich endete der Weg an einem großen Portal aus eisenverstärktem Holz – einem verschlossenen Fallgatter. Vorsichtig schlich Neire näher und konnte in der Wand Schießscharten erkennen. Schon bald vernahm er den hundeartigen Geruch von fauligem, nassen Fell. Hinter den Schießscharten war ein düsterer Burgraum zu sehen, in dem mehrere der Hyänenkreaturen saßen und Wache hielten. Neire ahnte, dass sie hier nicht weiter vordringen konnten. So schlich er den Weg zurück und nahm diesmal die rechte Gabelung. Dieser Weg stellte sich als Fortführung des Adlerwegs heraus, der um den unteren Teil der Burg herumführte. Als er die Steinwände des Fundamentes erreichte, die neben ihm meterhoch aufragen, wurde er wieder vorsichtig. Nicht viel weiter, kam er an eine gewaltige Türe aus massivem Stein. Meterhoch ragten die beiden Türhälften auf. Über der Türe war das Wappen der Arthogs zu sehen: Der Handschuh samt Ring über dem Ringfinger. Neire verweilte nicht lange und schlich weiter. Hinter einer Ecke sah er eine Öffnung. Hier musste sich eine ähnliche Steintüre wie die zuvor gesehene befunden haben, doch die Flügel waren jetzt geöffnet. Langsam näherte er sich. Zu seinem Erstaunen stellte er fest, dass die Türe eingebrochen war. Spuren von Gewalt waren zu erkennen. Dahinter sah er im Zwielicht eine unterirdische Halle, in deren Ecken Rüstungen schimmerten. Für einen kurzen Moment dachte er an eine Sinnestäuschung, doch er erkannte tatsächlich von den Rüstungen gehaltene Waffen, die wie von Geisterhand in der Luft schweben. Für einen kurzen Moment wurden die Windgeräusche um ihn herum geringer. Er lauschte und konnte aus weiter Ferne Rufe und Schreie durch das Gebäude hallen hören. Wie von einem großen Gelage. Neire hüllte sich tiefer in seinen Tarnmantel. Er hatte genug gesehen und gehört. Er drehte sich um und begab sich auf den Rückweg zu seinen Kameraden.

Wieso hatten sie sich nur auf diesen Auftrag eingelassen. Ja, Kurst hatte sie reichlich in Münzen bezahlt, doch darauf hätte er jetzt gut verzichten können. Er wollte kein Held sein, dafür war er bereits viel zu alt. Sollten doch andere die Drecksarbeit machen. In Gannwegen war es eine Situation auf Leben oder Tod gewesen. Der Drachentöter, wie er von dem seltsamen Jungen genannt wurde, hatte ihnen mit dem Tode gedroht, sollten sie sich ihm nicht anschließen. Und so hatten er und Wulfgar zähneknirschend eingewilligt. Obwohl sie der Jüngling fortlaufend als Sklaven der Münze beleidigte hatte. Nun hatte sich jedoch alles geändert. Nachdem sie eine Zeit auf Neire gewartet hatten, hatte sie der junge Priester zur Burg geführt. Sie waren alle so gut es ging geschlichen und hatten sich hier und dort im Schutze der Felsen getarnt. Als er den zerstörten Eingang gesehen hatte, war eine uralte Sicherheit gebrochen, ein tiefer Stolz gewichen. Die Adlerburg kannte er noch aus Kindermärchen. Ihre Uneinnehmbarkeit war für ihn ein Zeichen der Überlegenheit des Herzogtums von Berghof gewesen. Rognar spürte, dass er am ganzen Körper zitterte. Doch an eine Flucht war nicht zu denken. Er blickte zurück in den Saal mit den animierten Rüstungen. Sie hatten sich bis jetzt nicht bewegt. Vor ihm hörte die verhasste, zischelnde Stimme aus der Dunkelheit. Diesen fremden Akzent hatte er noch nie gehört. „Folgt mir durch den Gang. Entzündet eine Fackel. Ich habe eine geheime Treppe nach oben entdeckt.“

Neire ließ seine Mitstreiter in der Dunkelheit der Wendeltreppe zurück. Er hatte ihnen zugeflüstert ihre Fackel auszulöschen, da er Geräusche gehört hatte. Er näherte sich vorsichtig dem kehligen Schnarchen, das er von oben vernahm. Auch die Schreie und Rufe des Gelages wurden jetzt lauter. Irgendwann erreichte er eine Türe. Die Wendeltreppe ging weiter nach oben. Hinter der Türe hörte er die Geräusche. Leise öffnete er das kleinere hölzerne Portal. Dahinter war ein unregelmäßig geformter Burgraum zu erkennen. Licht drang durch Schießscharten und erhellte das Gewölbe kaum. Der Gestank, der ihm entgegenkam, war kaum auszuhalten. Neben Schweiß und verrottetem Fell, roch er Alkohol. Zudem konnte er erkennen woher das Schnarchen kam. Auf hölzernen Pritschen lag ein halbes Dutzend der Hyänenkreaturen. Fellige Humanoide mit einem furchterregenden tierischen Kopf. Sie alle schienen hier ihren Rausch auszuschlafen. Hinter einer weiteren Türe hörte er das Gelage. Neires Herz begann augenblicklich zu pochen, als er mit gezogenem Degen Schritt für Schritt durch den Raum machte. Zuerst verriegelte er leise die zweite Türe. Dann postierte er sich vor dem ersten der Wesen. Einen kurzen Moment dachte er an Lyriell und ihre Geschichten aus den Eishöhlen. Dann verwarf er die Gedanken. Er beruhigte seine zitternde Hand. Er musste handeln, jetzt war die Gelegenheit. Für euch sollte es ein Fest gewesen sein, ein Fest ohne böses Erwachen. Er visierte das Herz des ersten Wesens an. In dem Moment als er zustach legte er die Hand auf das Maul der Kreatur. Wie in einem Traum, wie in einer Zeitlupe nahm er seine Umgebung wahr. Tief hatte sich der Degen hineingebohrt. Warmes Blut sprudelte in Strömen hervor. Er musste das Herz getroffen haben. Die Gestalt zuckte noch und versuchte nach Luft zu schnappen. Doch schon wurden ihre Bewegungen geringer. Neire dachte an seine Göttin. Die Angst und das Adrenalin hatten sich zu einem Kampfesrausch gewandelt. Seine Bewegungen wurden mechanisch. Er schlich sich zum nächsten Wesen. Erneut setzte er den Degen an. Rigoros und unmissverständlich war der Imperativ des Mordens. Blut sprudelte auf, als er den Hals des Wesens durchschnitt. Wieder und wieder setzte er zum tödlichen Stich an. Bis die letzte der Kreaturen ihr Leben aushauchte. Er jetzt bemerkte er das Blut durch das er watete. Es bedeckte bereits einen großen Teil des Bodens. Neire betrachtete sein Werk und das Zwielicht durch das er wandelte. Seine Göttin musste ihn jetzt sehen, denn er war eins mit den Schatten.​
 
Sitzung 36 - Der Kampf um die Adlerburg

Er stand im zwielichtigen Raum und lächelte sie an. Bargh spürte, dass ihre Mitstreiter Rognar und Wulfgar mit ihren Ängsten und Ekeln zu kämpfen hatten. Er befürchtete, dass sie von dem sich offenbarenden Bild überwältigt wurden. Vor ihnen stand der lächelnde Neire in einer Lache von Blut, die den gesamten Boden des irregulär geformten Burggemachs bedeckte. Er hatte anscheinend die betrunkenen Hyänenkreaturen im Schlaf ermordet. Als Rognar und Wulfgar die Stirn runzelten, zuckte Neire mit den Schultern und schüttelte sein blutbespritztes, gold-blondes Haar. Es hatte den Anschein, als ob er niemals einer anderen Kreatur ein Haar krümmen konnte. Doch Bargh wusste um Neires Fähigkeiten der Schatten und er war stolz auf das, was sie erreicht hatten. Bargh sah, dass Neire den Finger auf den Mund legte und flüsterte. „Folgt mir und haltet eure Schwerter bereit. Hinter der Türe halten sie sich auf.“ Erst jetzt bemerkt Bargh den Geruch von Schweiß und nassem, verrottetem Fell, der in diesem Gemach lag. Dieser Geruch wurde nur von dem schweren Hauch von Alkohol und Blut überdeckt, der sich kürzlich über dem Raum ausgebreitet hatte. Als Neire zur ungeöffneten Ausgangstüre trat, hob Bargh sein Schwert. Auch er hörte jetzt die gedämpften Geräusche des Gelages durch die Pforte dringen. Neire trat zu Türe und begann diese vorsichtig zu öffnen. Bargh betrachtete Rognar und Wulfgar in diesem Moment genau. Er würde jeden Moment von Feigheit mit dem Tode bestrafen. Zwar hatte er in der Vergangenheit keine Hinrichtungen vollführt, doch nach den jüngsten Ereignissen fühlte er eine Art inneren, schwelenden Hass, der ihn dazu befähigen würde. Neire öffnete die Türe vollständig lautlos. Dahinter offenbarte sich ihm der Blick auf ein Gelage. Der Gestank von Schweiß, nassem Tierfell und Alkohol strömte ihm entgegen. Mehr als ein Dutzend der großen muskulösen Humanoiden mit dem Hyänenkopf saßen in einem weiten Saal der Burg. Die Bänke und Tische waren um einen großen Kessel angeordnet, dessen röhrenförmiger Auslass über einem Eisengitter im Boden endete. Der Lärm, den die Kreaturen machten, war ohrenbetäubend. Neben einem Brüllen war hier und dort tiefes oder höheres Bellen zu hören. Nachdem Bargh die Worte zum Angriff erhoben hatte, stürmten Rognar und Wulfgar voran. Er folgte und spürte das Adrenalin, das in ihm das Feuer des Kampfrausches entfachte. Neire hatte er für den Moment aus den Augen verloren. Bargh ließ sein Schwert auf die Gestalt hinuntersausen, die sich ihm entgegenstelle. Er sah Blut aufspritzen, doch das Hyänenwesen drang weiter auf ihn ein. Einige der Kreaturen schienen überrascht zu sein von ihrem plötzlichen Angriff. Andere griffen bereits nach ihren Äxten und sprangen heran. Er wurde jetzt von mehreren der Bestien bedrängt. Aus den Augenwinkeln sah er die Klinge, die sich plötzlich durch die Brust des Anführers bohrte, der am anderen Ende der Tische saß. Das musste Neires Werk sein, dachte er sich. Doch er hatte keine Zeit weitere Gedanken zu fassen. Kaum spürte er den Schmerz der Axt, die ihn durch seine Rüstung in die Seite schnitt. Der Kampf wurde jetzt zu einem Getümmel, in dem er in alle Richtungen um sich schlug. Hier brachte er eine weitere der Kreaturen zu Fall. Immer wieder krachten die Äxte der Hyänenwesen gegen seine Rüstung. Er war in einem wilden Kampfrausch verfallen, der ihn den Gestank und die kleinen Verletzungen vergessen ließ. Um ihn herum lagen bereits die Leichname mehrerer Kreaturen, als plötzlich die Türe aufging und weitere Wesen in den Raum stürmten. Sie umringten ihn, schlugen mit ihren Äxten zu. Dann sah er den blutigen Stahl von Neires Degen den Rücken einer der Kreaturen durchdringen. Gemeinsam kämpften sie gegen die Übermacht und um ihr Leben.

Neire schlich sich weiter durch die Gänge der Adlerburg. Bargh und er hatten nach dem Kampf gegen die Hyänenwesen ihre Wunden verbunden und danach die Burghalle abgesucht. Neire selbst war unverletzt geblieben. In den Schatten seines elfischen Mantels hatten ihn die Wesen zumeist nicht sehen können. Doch Bargh, Rognar und auch Wulfgar hatten einige tiefe Schnitte der Äxte zu beklagen gehabt. Sie hatten bei den Kreaturen einige Goldstücke gefunden, die Bargh mit lobenden Worten des Heldenmutes an Rognar und Wulfgar übergeben hatte. Besonders Wulfgar schien an den Worten Gefallen gefunden zu haben. Danach hatte sie Neire zurückgelassen und hatte zunächst die Treppe nach unten erkundschaftet, die aus einem weiteren Erker dieser Halle hinabführte. Weiter unten hatte er einen Verteidigungsraum gefunden, in dem wohl die Flüssigkeit aus dem Kessel abgeleitet werden konnte sowie einen Ausgang auf die Verteidigungsanlagen. Danach war er zurückgekehrt und hatte sich der Türe gewidmet, aus der sie von den weiteren Kreaturen angegriffen wurden. Dort hatte er einen Wachraum, das geschlossene Eingangsgatter und einen unterirdischen Pferdestall gefunden, in dem sich noch drei abgemagerte Tiere befanden. Jetzt schlich er gerade die enge Wendeltreppe hinauf; der einzige noch verbleibende unerforschte Teil des Schlosses. Er hatte Bargh, Rognar und Wulfgar angewiesen ihm nach kurzer Zeit zu folgen. Von weiter oben hatte er zwar leise, aber klar die Geräusche von gutturalen Stimmen gehört. Schließlich kam er an eine Türe, die in die Wand der rechten Seite eingelassen war. Die Wendeltreppe führte weiter hinauf. Neire hielt kurz die Luft an und lauschte an der Türe. Klar konnte er die Atemgeräusche und ein Geifern von hinter der Türe hören. Einen kurzen Moment dachte er nach. Sein Herz pochte und er verspürte eine Furcht. Doch er wusste auch um seine neuen Fähigkeiten und die Schatten, die seine Göttin von ihm forderte. So stieß er langsam und möglichst leise die Türe auf. Für einen Moment hörte er Schritte und Rufe eines Angriffs. Doch dann war die höhere bellende, fast kreischende Stimme, die die Kreaturen anwies. Er drückte sich in die Schatten und wartete auf seine Mitstreiter.

Wulfgar hatte die Worte des Drachentöters nicht vergessen, als er die Treppe hochging. Er, ein Held von Berghof? Der Gedanke füllte ihn mit Stolz. Er spürte die Unsicherheit bei seinem alten Mentor Rognar, doch er ließ sich davon nicht abringen. Er musste sich jetzt als Held seines Volkes beweisen. Es ging nur Vorwärts, niemals mehr Rückwärts. Als er in den Raum blickte, dessen Türe geöffnet war, sah er die Hyänenkreaturen. Es war als ob sie auf sie warteten. Hinter den Kreaturen konnte er eine weibliche Gestalt sehen, die in einer Hand einen Stecken und in der anderen Hand eine brennende Pfeife trug. Er wusste, dass es jetzt um Leben und Tod ging und so stürzte er sich in den Kampf. Die Kreaturen kamen auf ihn zu und er fühlte die Wunden der Äxte. Neben ihm kämpften Rognar und Bargh. Das letzte was er sah war der Degen, der sich von hinten durch das Herz der Hexe bohrte.​
 
Sitzung 37 - Der Kampf um die Adlerburg II - Teil I

Bargh keuchte schwer. Er fühlte sich so an, als würde sein Brustkorb jeden Moment zerbersten. Zudem konnte er kaum atmen, da die Luft von dem beißenden Gestank des Pfeifenrauches der Hexe erfüllt war. Nur langsam hob er den Kopf und blickte sich um. Teils strömte noch pulsierend das Blut aus den Wunden der getöteten Hyänenwesen. Die Unordnung, die in dem ansonsten einladenden Speisegemach der Burg geherrscht hatte, wurde nach ihrem Kampf durch die Leichen verstärkt. Neire und er hatten die Wunden von Wulfgar bereits hastig verbunden, um ein Ausbluten des jungen Kriegers zu verhindern. Wulfgars Kopf lag in einer Lache von Blut, die auch seine langen blonden Haare durchnässt hatte. „Er wird nicht aufwachen, nicht in der nächsten Zeit.“ Die zischenden Worte Neires hörte Bargh hinter sich. Als er sich langsam umdrehte, sah er, dass der jugendliche Priester zu Rognar getreten war und auf ihn einredete. Neire hatte seinen Tarnmantel zurückgelegt und zeigte ein sorgsames Gesicht. Rognar schien jedoch kaum zu reagieren. Er hielt immer noch sein Schwert hoch und suchte nach weiteren Angreifern. In Anbetracht der Lage, stand er anscheinend unter einer Art Schock. Er sah, dass Neire mit den Schultern zuckte und sich ihm näherte. „Ich werde mich weiter umschauen Bargh, ich befürchte, dass uns noch weitere dieser Kreaturen angreifen werden. Bleibt ihr hier und werft einen Blick auf Rognar.“ Bargh nickte langsam und raffte sich mühevoll auf. Die kurze Anstrengung und die Wärme des Raumes, die von dem Kochfeuer im Kamin ausging, hatten ihm den Schweiß in die Augen getrieben. Auch spürte er die Panzerplatten seiner Rüstung gegen die Wunden drücken, wobei in letztere der Schweiß hineinlief. Schließlich näherte er sich Rognar, der jetzt in Richtung Kamin gegangen war. Der Gestank des Pfeifenrauches verzog sich langsam und der Geruch der köchelnden Suppe war zu vernehmen. „Rognar, reißt euch zusammen. Es werden nicht die letzten Kreaturen gewesen sein und das ist ein Befehl! So ist das im Krieg. Entweder sie oder wir. Menschen sterben…“ Bargh sah, dass der Söldner kurz aufzuckte. Dann glitt sein wirrer Blick wieder in die Schatten des Gemaches. Bargh packte Rognar und rammte ihn unsanft gegen die Wand. Er spürte den älteren Mann am ganzen Körper zittern. „Verdammt nochmal reißt euch zusammen und kümmert euch um euren Kameraden. Kümmert euch um Wulfgar.“ Erst als Bargh ihn bedrohlich schüttelte reagierte der verletzte Krieger. „Wulfgar, was… wo?“ Bargh ließ von ihm ab. Als Rognar seinen Kameraden sah, schritt er zu ihm und kniete sich auf den Hyänenleichen nieder. „Ach Wulfgar, ihr… ihr wolltet ja nicht hören. Das passiert nämlich, wenn man den Helden spielen will.“ Bargh lachte auf und er erinnerte sich an alte Gedanken und Lehren, die in seinem Gedächtnis auftauchten. „Hah, solches Geweine nenne ich Feigheit. Ihr könnt hier glorreich sterben und eure Namen werden auf ewig in Berghof einen gewissen Klang haben. Am Ende zählt nur der Tatenruhm.“ Bargh trat mit gezogenem Schwert hinter den Söldner. Rognar beachtete ihn allerdings nicht und schluchzte weiter. „Was bringt es mir hier tot zu liegen, was ist schon mein Name wert. Ich will leben…“ Angewidert von den Worten hob Bargh sein Schwert. Er hat der Göttin gefrevelt. Auch wenn es die falsche war. Er hat keine Ehre, keinen Drang nach Großem. Ein Opfer für Jiarlirae sollte er sein. Bargh hatte bereits sein Schwert zum köpfenden Schlag erhoben, da hörte er abermals die Stimme von Neire. „Bargh hierher; ich habe etwas entdeckt. Eine Kammer mit Leichen.“ Er ließ sein Schwert sinken und schritt um die Leichen der getöteten Kreaturen herum. Als er Neire erreichte, flüsterte der Jüngling in sein Ohr. „Bargh, einer von ihnen ist noch am Leben. Es ist ein heiliger Krieger, Diener von Torm. Sein Name ist Akran.“ Augenblicklich waren da die Erinnerungen an sein altes Leben. An einen seiner früheren Lehrmeister: Akran. Oh wie er ihn schon damals gehasst hatte. Ja, da war die Sache mit dem Übungskampf gewesen. Einem Mitschüler hatte er damals den Kiefer gebrochen und mehrere Zähne ausgeschlagen. Daraufhin hatten ihn die anderen Schüler versucht zurechtzuweisen. Doch er hatte auch sie angegriffen. Er gegen drei. Es hatte keine Toten gegeben, doch er hatte sie schwer verletzt. Akran hatte ihn danach gezüchtigt und mehrere Tage in das Hungerverlies gesteckt. Konnte es sein, Akran hier? Bargh stürzte an Neire vorbei auf die kleine Zelle zu, die sich in dem Gang auftat, der aus diesem Saal hinfort führte. Es kam ihm der Gestank von Fäkalien, Erbrochenem und Eiter entgegen. In der Zelle saßen, wie zusammengepfercht, mehrere nackte und schwer verletzte – wenn nicht gar bereits tote – Gestalten. Sie waren mit Ketten an die Wände gefesselt. Die Gestalt die noch atmete erkannte er sofort als Akran. Doch jetzt war sein alter Lehrmeister von kleinen eiternden Wunden übersäht, sein Gesicht zur Unkenntlichkeit angeschwollen. An der rechten Hand waren nur noch drei Finger und an der linken Hand nur noch ein Finger zu sehen. Die fehlenden Finger waren abgehackt oder ausgerissen worden. Zudem hatte er eine Nadel durch die Backe getrieben, von der ein langer Faden hinabhing. Bargh kochte innerlich. Auf diesen Moment hatte er eine lange Zeit gewartet. Doch er spürte auch eine Art weit entferntes Mitleid für seinen alten Lehrermeister. Er suchte eine einigermaßen trockene Stelle auf dem von Fäkalien bedeckten Boden und kniete sich nieder.

Neire hatte bereits das von Blut besudelte Stück Pergament gelesen, das mit dem Garn an das Fleisch von Akrans Gesicht genäht gewesen war. Er hatte dies vorsichtig und leise entfernt, so dass der heilige Krieger nichts davon mitbekommen hatte. Dann hatte er das Siegel aus Wachs studiert und die Runen entziffert. Es hatte sich wie ein Befehl gelesen:

Hiermit entsende ich den ehrenwerten Krieger Akran, der angewiesen worden ist Rechtschaffenheit, Kampfeswillen und Ehre in die Adlerfeste zu tragen und diese vor Unholden zu schützen. Ihm wird auferlegt sich der Gerichtbarkeit der Besatzung der Burg zu unterwerfen, solange es der Auftrag erfordert. Ferner wird ihm zugetragen, mit dem Schwert der Reinheit über Fäulnis und Verderbtheit zu richten. Er möge die Macht und den Mut unseres hohen Herrn Torm in die alten Hallen zurückbringen. Es spricht, Luzius der Ungebrochene, Oberster Herr des Tempels der Ehre.“

Neire war bereits angewidert gewesen, als er den Text gelesen hatte. Er hatte keinerlei Mitleid gespürt mit der geschundenen Gestalt, die, einem schwachen Gott dienend, sich selbst in dieses Schicksal manövriert hatte. Doch dann hatte er sich entschieden Bargh von dem heiligen Krieger zu berichten. Gemeinsam wollte er eine Entscheidung über ihr weiteres Vorgehen treffen. Doch dazu war es nicht gekommen. Bargh war an ihm vorbeigestürzt und Neire war ihm gefolgt. Jetzt blickte Neire in die kleine Kammer voller nackter, verstümmelter Leichen. Bargh hatte sich mittlerweile über Akran gebeugt und begann zu sprechen. Neire bemerkte, dass sein Begleiter die Spitze seines Schwertes am unteren Rippenbogen von Akran platziert hatte. Neire verfiel in Gedanken als er dem Gespräch lauschte.​
 
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