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Nicht gelistetes System Ulisses Spiele: Handbücher des Drachen - Spieler machen Leute

sonic_hedgehog

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Ich gestehe. Obwohl ich nun schon seit langen Jahren Rollenspiele spiele - gelegentlich kommt mir der Gedanke: Sonic - das geht sicher auch besser. Ich meine, selbst ein Al Pacino kann noch lernen, wie ist das dann erst bei dir? Und auch wenn wir hier im Forum kontroverse Diskussionen zum Thema Rollenspielbücher hatten, auch ich habe das ein oder andere zum Thema gelesen. Zuletzt, ich hatte berichtet, die Handbücher des Kobolds.

Als ich nun auf das im Rahmen des Ulisses-Crowfundings der Handbücher des Drachens produzierte Heft „Spieler machen Leute“ von Lars-Hendrik Schilling stieß, war ich ernsthaft gespannt. Ein Buch, das sich den Charakteren widmet und damit explizit auch den Spieler in mir anspricht.

Nun liegt es als pdf vor mir – eine der beiden käuflich erwerbbaren Varianten – die andere wäre das gedruckte Softcover.

Ein erster Blick gilt dem Autor, schließlich will man ja wissen, wessen Ausführungen man hier lauscht. Vielleicht liefert dem Interessierten das im Zuge des Crowdfundings veröffentlichte Interview Antworten.

Der zweite, ausführlichere Blick soll den Inhalten gelten:
196 Seiten, dezent designt, 11 Kapitel, 3 Anhänge und dazwischen gestreut 10 Charakterkonzepte aus verschiedenen Settings. Dezent designt dahingehend, als dass den Seiten die Anmutung gealterten Papiers bzw. Pergaments gegeben wurde, mit verzierenden Einfassungen und einigen eingestreuten Bildern der Charaktere – insgesamt etwas schade, dass man die Chance nicht genutzt hat und unter Verzicht auf die ersten beiden ein echtes E-Book produziert hat.

Die Kapitel nähern sich dem Thema Charaktere von verschiedenen Seiten.
Es beginnt unter der Überschrift „Charaktere für jede Gelegenheit“ mit der elementaren Frage, welchen Zwecken ein Charakter dienen soll – ob er bspw. Objekt oder Subjekt, Statist oder Hauptfigur und lang- oder kurzfristig interessant sein soll, da dies (und die weiteren Abwägungen) direkte Auswirkungen darauf hat, welche der in den folgenden Kapiteln vorgestellten Konzepte in welchem Ausmaß zur Anwendung kommen.
Das Kapitel „Tiefe Wasser und flache Stillen“ versucht, sich der Charaktergenerierung über Ebenen der Persönlichkeit zu nähern – beginnend in der Tiefe, mit den Bedürfnissen über Charakterzüge, Motivationen bis zur Oberfläche mit Auftreten und Launen – wobei sich das Folgekapitel ausführlich den Bedürfnissen widmet. Basierend auf der Bedürfnispyramide nach Maslow, die per se ja anderen Zwecken dient, lassen sich die Bedürfnisse eine Charakters in hierarchische Kategorien einteilen, wobei die basalen Bedürfnisse in der Regel befriedigt sein sollten, bevor man sich abstrakteren zuwendet. Natürlich, auch darauf wird hingewiesen, mag es Abweichungen geben, aber eine Häufung von Abweichungen wirkt unglaubwürdig.
Im Anschluss werden verschiedene Methoden zur Entwicklung neuer Charakterideen vorgestellt – beispielsweise die Inspiration aus Erfahrung, eine Jojo-Methode zur schrittweisen Zusammenstellung eines passenden Sets aus Bedürfnissen, Motivationen und Auftreten, die Erschaffung unter Zuhilfenahme von Leitenden Fragen oder basierend auf Archetypen, um nur eine Auswahl zu nennen.
Wichtig auch: „Kein Charakter ist eine Insel“ - die Gruppe und welche Fallstricke in der Zusammenstellung einer Gruppe von Charakteren (nicht zwingend Spielern) lauern können und mittels welcher Methoden man ihnen entgehen kann.
Dann erfolgt ein Schwenk hin zum Spielleiter: Das Kapitel „Charakterprüfung“ widmet sich der Frage, wie durch Fokussierung auf Charaktere Geschichten spannend sein können, also die Handlung über die Charaktere und nicht über das Geschehen voranzubringen.Den größten Motivationen gelten die folgenden Kapitel, dem Glauben und den Widersachern.
Unvermeidbar im Rollenspiel und damit auch unvermeidbarer Bestandteil dieses Buchs – der gewaltsame Konflikt – hier unter dem Aspekt betrachtet, wie er auf Charaktere wirken kann und wie man Spieler und Charaktere mehr bietet als nur das Aufeinanderschlagen von Schwertern.
Last und vielleicht auch least – das Kapitel zur Namensfindung.
Die Anhänge mit den im Kerntext angesprochenen Fragebögen und dramatischen Situationen runden das Buch ab, die eingestreuten Charakterentwürfe lockern es auf.

Für mich war das Buch eine positive Überraschung – sicherlich, vieles war mir durchaus auch schon vorher bekannt – aber die Zusammenstellung war durchaus überzeugend. Nun bin ich vieles, aber kein Sozialwissenschaftler. Daher ist es mit unmöglich zu beurteilen, ob die hier präsentierte Hobbypsychologie tatsächlich auf so solidem Fundament steht, wie der Anschein erweckt wird. Das ist aber auch eher nebensächlich, denn fürs Rollenspiel reicht es. Man soll und will ja eben kein Studium der Soziologie mit Nebenfach Psychologie absolvieren, um Rollenspiel zu betreiben. Und in diesem Sinn kann ich natürlich die Maslowsche Pyramide verwenden, um eine glaubhafte Welt zu sehen – denn unbestreitbar ist: Wer Hunger hat, kümmert sich nicht um den Erhalt von Theatern und eine Welt, in der Kaviar neben Kindern mit Biafra-Bauch gegessen wird, braucht keine weitere Erklärung zur Ungerechtigkeit. Ebensowenig werden sich viele Leute finden die anzweifeln, dass die besten Antagonisten diejenigen sind, deren Charakterstruktur der der Protagonisten im Grunde ähnelt und dass, egal wie gefährlich die typischen RPG-Monster sind, die gefährlichsten Gegner Gruppen intelligenter Wesen sind (was das ein oder andere Kaufabenteuer ja auch so unglaubwürdig macht – getreu dem Motto: So dumm können die doch nicht sein, dass unser zusammengezimmerter Plan klappt). Ob man nun seiner Charaktererschaffung einen zufälligen Touch geben will, sei jedem selbst überlassen- aber bevor Charakter #5 das Abziehbild seiner Vorgänger wird, warum dann nicht mal die Leitenden Fragen ausprobieren. Oder als SL anhand eines Gruppenkonzept passende Charakterbausteine auswählen und den Spieler in diesem Gerüst arbeiten lassen?
Schwieriger, da per se wesentlich aufwendiger, der Versuch, die Geschichte dann auch noch direkt auf die Spielercharaktere abzustimmen – aber der SL, dem es gelingt, in seiner Geschichte Spieler und Charaktere gleichermaßen anzusprechen und nicht nur jedem seinen Anteil Spotlight, sondern auch noch persönliche Motivation zu liefern – das ist und bleibt die große Kunst.

Das Buch bietet aber auch kein in sich geschlossenes Konzept, es ist eher ein Werkzeugkasten. Und wie bei jedem Werkzeugkasten gilt: Der beste Hammer hilft nicht, wenn man nicht weiß, wo man ihn anfasst und wo man zuschlägt. So auch hier: die Anwendung der Bausteine braucht Erfahrung und vermutlich auch verschiedene Fehlschläge beim Versuch sie anzuwenden – aber so ist das eben. Sicherlich ist dieses Buch nichts, dass man einem blutigen Anfänger in die Hand drücken sollte, der sich erst noch im Hobby finden muss. Und ja, alte Hasen werden für viele der Fragestellungen ihre eigenen Lösungen gefunden haben und wenig neue Erkenntnisse schöpfen. Aber die Masse dazwischen, diejenigen, die gelegentlich mit den Characterplay hadern und eine Affinität zur Theorie haben, für die ist das Buch einen intensiveren Blick wert. Mit 19,95€ nicht die günstigste Anschaffung, aber in meinen Augen lohnenswert.

Mein Dank gilt Ulisses für die Bereitstellung des hier besprochenen Exemplars.
 
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