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Sci-Fi / Fantasy Jaroslav Kalfař: Eine kurze Geschichte der böhmischen Raumfahrt (Tropen)

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Titel: Eine kurze Geschichte der böhmischen Raumfahrt
Autor: Jaroslav Kalfař
Übersetzung: Barbara Heller
Aufmachung: Hardcover
Seiten: 368
Verlag: Tropen (Klett-Cotta)
Erscheinungsdatum: 05.08.2017
ISBN-13: 978-3-608-50377-7

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An einem warmen Aprilnachmittag im Jahr 2018 hebt Jakub Procházka als einziger Passagier des Raumschiffs JanHus1 vom böhmischen Raumhafen Petřínhügel (zu Deutsch Laurenziberg) ab und das erste Raumschiff der tschechischen Geschichte verlässt die Erde, um eben diese Geschichte zu schreiben und durch das Erreichen einer kosmischen Staubwolke, die sich seit nicht allzu langer Zeit stationär zwischen Erde und Venus befindet, Erkenntnisse zu möglichem außerirdischen Leben zu gewinnen. Doch die Mission des einsamen Raumfahrers Jakub verläuft nicht so, wie geplant – nicht nur fallen kurz nach dem Start quasi alle Kameras an Bord der Rakete aus, auch trifft er vollkommen überraschend auf ein außerirdisches Wesen, das ihn an Bord der JanHus1 fortan begleitet. Und als wäre das und die Einsamkeit des Raumreisenden nicht Belastung genug – je weiter sich die JanHus1 von der Erde entfernt, desto weiter entfremdet sich Jakubs Frau Lenka von ihm.

Jaroslav Kalfařs „Eine kurze Geschichte der böhmischen Raumfahrt“ ist, das muss man an dieser Stelle unmissverständlich klarstellen, trotz der die Handlung tragenden Raumfahrt kein Science Fiction Roman. Die Mission ist nicht mehr als ein Vehikel, das sich der Autor zunutze macht, um seine eigentliche Geschichte zu erzählen – ein Vehikel, das auch nur rudimentär ausgestaltet ist und nicht einmal versucht glaubwürdig zu sein. Sei es, dass der 2017 erschienene Roman seine Handlung ins Frühjahr 2018 legt, sei es der Erwerb einer Rakete durch die Tschechische Republik aus der Schweiz, sei es der Raketenstart vom Petřín, der nicht nur mitten in Prag liegt, sondern auch aufgrund seines Breitengrads durchaus ungeeignet für Raketenstarts wäre.

Wenn sich an dieser Stelle die Zahl der Interessierten um die Hardcore SciFi-Fans reduziert hat, ist die Zeit gekommen, auf den eigentlichen Kern der Geschichte einzugehen: Jakub

Seine Einsamkeit im All und die (reale oder halluzinierte) Begegnung mit dem Außerirdischen, einem überdimensionalen Weberknecht mit unzählbar vielen rot geäderten Augen, lippenstiftroten Lippen und gelben Zähnen treiben Jakub in die Erinnerungen. Erinnerungen an die Samtene Revolution und ihre Folgen, an die Transformation Tschechiens, aber auch an Lenka, ihr Zusammentreffen und ihr gemeinsames Leben.

Jakub entstammt einer Familie, die als Verlierer des Untergangs der Sowjetunion gezählt werden muss, da Jakubs Vater als Kollaborateur und Spitzel des Sowjetregimes mit der Samtenen Revolution vor den Trümmern seines Lebens stand. Dass ausgerechnet Jakub, der in den Folgejahren sehr unter dieser Wende gelitten hatte, als Symbol der böhmischen Nation ins Weltall fliegt, könnte in einer positiveren Sichtweise als Befriedung geschichtlicher Kämpfe und Ungerechtigkeiten gesehen werden – aber einer derart positiven Sichtweise hängt der Ich-Erzähler offenbar nicht an. Jakub ist gefangen in Schuldgefühlen aufgrund der Taten seines Vaters und leidet, wenn auch nur verborgen, unter den erlittenen Ungerechtigkeiten. Ein Teil der Geschichte, den wir als Deutsche gut nachvollziehen können, wo immer darauf verwiesen wird, die Lebensleistung Ost-Deutscher werde nicht ausreichend gewürdigt und wo bis heute Stasiverwicklungen Karrieren ehemaliger Täter verhindern (und ich meine Hand nicht dafür ins Feuer legen würde, dass nicht auch die eigentlich unschuldigen Kinder dieser Täter Hindernisse zu überwinden hatten). Konkret leidet er unter der Rache eines Einzelnen, die sein friedliches Leben bei seinen Großeltern beendete.

Aber auch der Transformation der sozialistischen ČSSR in die kapitalistisch-demokratische Tschechische Republik steht Jakub kritisch gegenüber und sieht die Folgen einer öffentlichen Kommerzialisierung – auch am eigenen Leib, ist doch die Raumfahrtmission zu einem Gutteil aus Sponsoring-Einnahmen finanziert und er selbst Werbeträger diverser Unternehmen, deren mehr oder weniger funktionale Produkte ihn auf seinem Weg begleiten.
Ich schwebte durch Korridor 2 und drückte eine erbsengroße Menge grüner Paste auf meine blaue Zahnbürste, zur Verfügung gestellt von SuperZub (führender Anbieter von Dentalbedarf und Sponsor der Mission). Während ich mir die Zähne putzte, riss ich die Plastikverpackung eines Feuchttuchs auf, zur Verfügung gestellt von Hodovna, führende Kette von Lebensmittel-Megastores und Sponsor der Mission.

Das Leben mit Lenka hätte seine Rettung, hätte sein Anker sein können, wüsste nicht der Leser (und auch Jakub selbst) zum Zeitpunkt, da diese Erinnerungen in Rückblenden durchlebt werden, schon vom Scheitern der Fernbeziehung der extremsten Art und erführe, im letzten Drittel des Buches, nicht vom Blickwinkel der „treulosen“ Ehefrau.

Und eingestreut, einzelne Highlights der tschechischen Geschichte, bei deren Erzählung sich Jakub aber einige Freiheiten nimmt…

Die kurze Geschichte der böhmischen Raumfahrt ist dabei keine Abrechnung mit der Tschechei, auch nicht mit der Geschichte - es ist vielmehr eine melancholische Rückschau, in Teilen auch eine Liebeserklärung. Daneben ist Kalfařs Roman eine absurde, tragisch-komische Erzählung. Eine intelligente Erzählung, selbst wenn mitunter am Ende der Phantastik Banalitäten stehen. Der Roman berührt wichtige Fragen zum Umgang mit der jüngeren Geschichte und zur Gestaltung der Zukunft, ohne sich dadurch eine Schwere auferlegen zu lassen. Sprachlich ist der Roman überbordend und Großteils ein Genuss, manchmal aber in seinen assoziativen Gedankenreihungen anstrengend und mitunter auch jenseits der Grenze des Erträglichen:
Verbrannte Wurst, klimatisierter Wäschegestank aus Bekleidungsgeschäften, Abgase von Polizeiautos, volle Windeln in Designer-Kinderwagen, Waffeln mit Salmonellenschlagsahne im Straßenverkauf, in den Ritzenzwischen uralten Pflastersteinen versickerter Whisky, frisch ausgepackte, vor Kiosken gestapelte Zeitungen, da und dort Marihuanageruch aus einem Fenster über einer Gap-Filiale, verstohlen liegen gelassene Hundehaufen, von Fahrradketten spritzendes Öl, an frisch geputzten Bürofenstern herunterlaufender Glasreiniger, ein Fühlingslüftchen, das kaum in die geschlossenen Häuserreihen dringt, die den Platz säumen – diese chemische Geruchsanarchie, jedem Prager Kind in die Wiege gelegt, heißt uns jedes Mal daheim willkommen, und in unserem angeborenen Wissen nennen wir sie schlicht „Wenzel“

Jaroslav Kalfař selbst ist tschechischer Herkunft, aber als Jugendlicher mit seiner Mutter in die USA ausgewandert, wo er heute in New York lebt. Er wird mit diesem Roman, auch wenn er sich offenbar zum Verkaufsschlager in Tschechien entwickelt hat, nicht in die Geschichte der Literatur eingehen – aber es ist ein Debut, das den Autor sehr spannend macht. Und das es wert ist, gelesen zu werden, wenn man angesichts der Zitate und der Leseprobe, die sich auf der Seite von Klett-Cotta findet eine gewisse Vorfreude empfindet. Mir hat der Roman jedenfalls ein paar sehr vergnügliche Stunden bereitet und ich danke dem Verlag für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars.


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[32//40] - Handlung
[35//40] - Stil
[10//10] - Aufmachung
[09/10] - Preis/Leistungs-Verhältnis

86% - gesamt
 
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