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Screw

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Dungeons & Dragons 5 - Dunkle Feder - Teil 5.1 "15 Wahrheiten"

Die Abenteurer bleiben vier Wochen. Sie erzählen von ihren Erlebnissen und Erfahrungen, und im Gegenzug berichtet Linda von den ihren, auch davon, wie es sich ergeben hat, dass sie menschliche Eltern hat. Ihre Tante und ihr Cousin befinden sich an diesem Abend bereits im Bett.
„Hrm“, macht Hrodger darauf hin, „na das nenne ich tatsächlich mal ein Novum. Und du bist nicht ein Mal auf den Gedanken gekommen, deine Eltern zu rächen?“
Linda verdreht die Augen. „Was soll das bitte bringen? Mein Bruder hat meine leibliche Mutter getötet, um sich für die Gräuel unserer Vorfahren zu rächen, daraufhin hat mein leiblicher Vater ihn getötet um seine Frau zu rächen, was dazu führte, dass mein Vater seinen Sohn gerächt hat. Wenn ich jetzt ihn aus Rache töten würde, dann müsste meine Mutter wiederum mich aus dem gleichen Grund töten. Und was bleibt dann? Eine einsame Witwe, die ihr Ziehkind ermordet hat.“
Stille senkt sich über die Runde und erst ein raues Kichern löst das betretene Schweigen wieder auf. Hrodger wirft der Halbork-Frau einen finsteren Blick zu. Diese lächelt belustigt und sagt ein Wort, welches Linda nicht versteht. Hrodger tut das mit einer wegwerfenden Handbewegung ab und wendet sich wieder an Linda. „Viele meines Volkes würden dich dafür verfluchen, dass du mit dieser Aussage das Andenken ihrer Ahnen in den Schmutz gezogen hast.“
„Ja, ich weiß“, antwortet sie achselzuckend. „Eure Art liebt es, ihren persönlichen Groll über Generationen zu hegen und zu pflegen. Aber mir scheint, dass ihr auch niemanden respektiert, der euch nicht mindestens einmal so richtig übers Ohr oder ins Gesicht gehauen hat.“
Jetzt wirft sich die Halbork-Frau lachend gegen ihre Stuhllehne. Hrodger hingegen ist alles andere als amüsiert und fährt seine Partnerin an. „Halt’s Maul, Mushina!“ Die angesprochene drückt sich den Handrücken gegen den Mund, grunzt aber immer noch ein wenig weiter.
Hrodger richtet sich drohend auf. „Was, bei den acht Verrätern, weißt du von MEINEM VOLK! Du hast keine Ahnung, was du da von dir gibst, und wäre ich hier nicht Gast und du kein Kind ...“ Den Rest lässt er ungesagt, aber es ist offensichtlich, was er damit angedeutet.

Linda ist ehrlich erschrocken, wird dann aber selbst wütend. Sie dreht sich abrupt um und stürmt aus dem Raum. Während alle im Raum aufgeregt durcheinander zu reden beginnen, tragen sie ihre forschen Schritte direkt in ihr Zimmer. Mit ein paar schnellen Handgriffen hat sie alles zusammen, was sie braucht, geht wieder zurück und knallt vor Hrodger eine Schriftrolle auf den Tisch.
„Was soll ...“, beginnt dieser, aber Linda unterbricht ihn.
„Sagt mir, dass das hier nicht der Wahrheit entspricht und ich entschuldige mich sofort.“
Seinen finsteren Blick auf Linda gerichtet, rollt Hrodger das Pergament auf, dann sieht er auf den geschriebenen Text und schnaubt verächtlich. „Ein Märchen? Soll das ein Witz ...“
„Nicht das“, Linda wird ungeduldig. „Die andere Seite.“
Hrodgers Zorn wird von leichter Irritation abgeschwächt. Er besieht sich die Rückseite des Schriftstückes kurz und dreht es wieder zurück. „Ich weiß nicht, was du ...“
Linda macht einen Schritt vor, reißt Hrodger den Text aus der Hand und legt ihn mit der Rückseite nach oben auf den Tisch. Dann nimmt sie die Öllampe auf dem Tisch und hält sie knapp darüber. „Das hier.“
Hrodger wirkt jetzt mehr genervt als wütend, beugt sich aber dennoch über die scheinbar leere Fläche und kneift die Augen zusammen. Dann runzelt er die Stirn, nimmt das Pergament in die eine Hand, die Öllampe aus Lindas in die andere und beginnt zu lesen.
 
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Dungeons & Dragons 5 - Dunkle Feder - Teil 5.2 "15 Wahrheiten"

„Das ist die Geschichte von Moradins Strafe. Woher weißt du was da geschrieben steht?“ Jetzt blickt er sie direkt an, seine Wut verschwindet fast und macht Misstrauen Platz.
„Ich kann die zwergische Sprache verstehen und lesen, wenn ich mich konzentriere. Sagt mir jetzt, ob das, was hier steht wahr ist oder nicht.“
Einige Augenblicke lang ist der Unwille in der ganzen Statur des Zwerges zu sehen, doch schließlich sinken seine Schultern herab und alle Anspannung weicht einer resignierenden Haltung. Hrodger stellt die Lampe auf dem Tisch ab und rollt das Pergament langsam zusammen, dann legt er dieses neben die Lampe und lässt sich wieder auf seinen Sitz sinken. „Es ist alles wahr.“ Sein Blick ist auf unsichtbare Bilder gerichtet. „Wir haben uns in Stolz und Hochmut verloren. Haben alle Reden und Taten verteufelt, die uns unsere Grenzen aufzeigen wollten. Haben auf andere Völker herabgesehen, uns in die Hoheit unserer Gebirge zurückgezogen und alles Fremde abgelehnt. Wir führten Kriege aufgrund eingebildeter Beleidigungen und verletztem Stolz. Als Moradin, unser Schöpfer, das sah und seine Warnungen von unseren Ohren abprallten, ließ er uns graben. So lange, bis wir so tief gegraben hatten, wie kein sterbliches Wesen je graben sollte.“
„Und da habt ihr eines der Portale gefunden.“ Linda will mehr hören.
Hrodger nickt. „Ja, aber nicht im Ganzen, es war zerstört. Wir gruben alle Stücke aus, schleppten sie auf den höchsten unserer Gipfel und setzten es dort als Zeichen unserer Überlegenheit zusammen. Welch Narren wir waren, wir haben den Krieg über diese Länder gebracht. Den absoluten Krieg.“

Ein verächtliches Grunzen lässt alle zu Mushina aufsehen. „Ihr Zwerge. Selbst in eurer Demut seid ihr noch hochmütig.“
„Was willst du damit sagen. Glaubst du ich lüge?“ Wieder zuckt rechtschaffener Zorn über Hrodgers Gesicht.
„Schwachsinn“, sie wirft ihren Kopf herum. „Hielte ich dich für einen Lügner, würde ich nicht für dich arbeiten. Aber ihr wart nicht die einzigen, die ein Portal errichtet hatten.“
Samuel, Gloriana und Lindas Onkel folgen der Unterhaltung ebenfalls gebannt, Hrodger schüttelt leicht ungläubig den Kopf. Linda fordert Mushina mit einer Handbewegung dazu auf, weiter zu sprechen.
„Auch die Orks haben Götter, und sie respektieren Stärke und Macht. Ein arkanes Artefakt aus der Urzeit? Ein besseres Werkzeug, um genau das zu erreichen gibt es wohl nicht. Viele Stämme haben sich gegenseitig die Köpfe eingeschlagen, um an alle Teile zu kommen. Irgendwann haben sich die letzten verbündet um das Portal zusammenzusetzen. Ende der Geschichte.“
Linda will eben noch nachbohren, Fragen zu Details und zeitlichen Angaben stellen, aber die Stimme ihres Onkels hält sie zurück.
„Es gibt ein Lied das von einer Legende in T’u Lung erzählt. Darin ist auch von einem Tor die Rede, welches in eine andere Welt führen soll.“
Linda blickt von ihrem Onkel zu Hrodger, zu Mushina und dann zu ihren Eltern. „Mama, Papa“, sagt sie nach kurzem Nachdenken, „ich muss in die Stadt. In die Bibliothek.“
 
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Dungeons & Dragons 5 - Dunkle Feder - Teil 6.1 "18 Meilen"

Es gibt nicht mehr viel zu sagen, diskutiert war in den letzten Wochen ausgiebig geworden und das Ergebnis stand eigentlich von Beginn an fest. Was bleibt, sind Blicke, Gesten und wohlmeinende wie sorgenvolle Wünsche.
„Schreib’ uns“, flüstert Gloriana ihrer Tochter bei der wohl hundertsten Umarmung zu.
„Als könnte ich meine Hand davon abhalten“, ist die lachende aber von Wehmut durchzogene Antwort Lindas.
Eine Hand auf Glorianas Schulter zu legen ist alles, was Samuel tut, um sich auch das Recht einer letzten Zärtlichkeit für eine Lange Zeit mit seinem kleinen Bock zu erbitten. Wortlos und mit feuchten Augen lässt sie von Linda ab und diese verschwindet nahezu in den bärengleichen Armen ihres Vaters. Ein Kuss an die übliche Stelle auf der Stirn sagt alles, was er mit Worten nicht auszudrücken vermag, dann hält er sie auf Armeslänge vor sich, blinzelt seine eigenen Tränen fort und lächelt stolz. Linda versteht wie so oft und lächelt zurück. Ihre Augen weinen zu sehen ist ein seltener Anblick und stets von neuem wundersam anzusehen, da es ihnen einen seltsamen Glanz verleihen.
Hrodger versucht das ganze zu ignorieren und beschäftigt sich mit der Optimierung der Gepäcksverteilung auf den Pferden. Mushina steht entspannt an einen Baum gelehnt in der Nähe und betrachtet die Szene mit undefinierbarem Ausdruck im Gesicht.
Das bringt ihr ein gegrummeltes Kommentar des Zwerges ein. „Willst du mir nicht helfen?“
„Wobei? Dinge zu überprüfen die bereits fünf Mal überprüft wurden?“ Ihr Blick wendet sich nicht von der kleinen Familie ab, auf Hrodgers mögliche Gründe für sein Verhalten geht sie nicht ein – ein leidiges Thema, das sie sicherlich nicht selbst anschneiden wird.
„Hmph“, ist die ganze Reaktion darauf.
Linda löst sich schließlich mit den Worten „Ich liebe euch“ von ihren Eltern und tritt zu den beiden Abenteurern. „Ich danke euch für eure Geduld, verehrte Reisekameraden, ich bin nun auch bereit für die Abreise.“
Die Kriegerin nickt knapp und geht zu ihrem Pferd. „Dann los.“
„Hmph“, ist alles, was Hrodger dazu sagt und dabei klettert er auf seinen Esel.
Gleich und Gleich gesellt sich gern, denkt Linda amüsiert bei sich, aber sie hütet sich davor das laut zu sagen. Hrodger ist stur und missmutig, aber auch begeisterungsfähig und fürsorglich, weshalb sie den Vergleich nicht negativ sieht. Dennoch, es wird selten wohlmeinend aufgenommen, wenn man jemanden mit einem Esel vergleicht.
Als alle aufgestiegen sind und Linda ihren Eltern noch ein letztes Mal zugewunken hat, brechen die, nun drei, Abenteurer auf. Ihr erstes Ziel ist die Stadt, Hrodger hat dort ein Treffen mit einem gnomischen Animateur vereinbart, der Geleitschutz benötigt und für einen Preisnachlass bereit ist, seine Beziehungen zugunsten Lindas Wissenssuche spielen zu lassen. Die Aussicht auf neue Erfahrungen und neues Wissen erregen sie im Zusammenspiel mit ihrer ersten Reise ohne Familie so sehr, dass sie nach kurzer Zeit ihre Laute zur Hand nimmt. Da ihr Tier entspannt dem Esel Hrodgers folgt, wickelt sie die Zügel locker um den Sattelknauf und macht es sich im Schneidersitz bequem. Nach ein paar Probeakkorden und leichten Justierungen an den Stimmwirbeln, beginnt sie mit der Melodie eines Wanderliedes und lässt die Melodie, begleitet von ihrer sanften Stimme, über die Landschaft gleiten. Es dauert nicht lange, da stimmt auch Mushina mit ein, ihr brüchiges Alt offensichtlich untrainiert aber nicht ungeübt, und zaubert damit ein fröhliches Lächeln auf Lindas Lippen.
 
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Dungeons & Dragons 5 - Dunkle Feder - Teil 6.2 "18 Meilen"

„Oh ihr Götter, können wir nicht einfach still reisen?“, ist daraufhin Hrodger genervt zu vernehmen, was Mushina gleich wieder verstummen lässt.
Linda spielt weiter, die Melodie nimmt allerdings einen schnippischen Ton an. „Musik zu machen hilft mir, meine Gedanken zu sortieren.“
„Dann spiel leise.“
Irgendwie vermag es der letzte Akkord der Laute, spöttisch zu klingen, aber die junge Bardin hängt sich das Instrument wieder auf den Rücken. Allerdings zieht sie dafür eine Flöte aus ihrer Tasche und setzt diese an die Lippen. Der Zwerg funkelt sie finster an und öffnet eben den Mund um etwas harsches zu sagen, doch als Linda mit wiegenden Schultern zu spielen beginnt, ist kein Ton zu hören. In der Annahme, dass sie ihn entweder verhöhnen will oder seiner Aufforderung gefolgt ist, schnaubt Hrodger nur verächtlich und dreht sich wieder nach vorne.
Mushina ist allerdings neugierig, lenkt ihr Tier näher an das der Musikerin heran und lehnt sich mit dem Ohr zu Linda hinüber. Es ist wirklich nichts zu hören, dabei ist klar zu sehen, dass sie wirklich spielt – Schultern, Bauch und Brustkorb arbeiten ganz deutlich und blasen Luft durch das Instrument, aber nicht einmal das leiseste Säuseln ertönt. Als sich die Halb-Ork wieder aufrichtet, streckt sie stumm die Hand aus und Linda legt ihr nach einem kurzen Augenblick die Flöte in dieselbe. Ein paar Augenblicke lag studiert Mushina das einfach gearbeitete Stück Holz, wendet es hin und her und dreht es mehrmals in ihren Fingern. Schließlich hebt sie es an ihre Lippen und probiert selbst ... nichts. Selbst als sie mit sichtbarer Kraft hinein pustet, Linda zuckt dabei kurz zusammen und kann ein überraschtes Kichern nicht unterdrücken, kommt kein Geräusch aus den Löchern. Irritiert dreht sich auch Hrodger wieder zu den beiden Frauen um und, als er den Ausdruck auf dem Gesicht seiner Begleiterin sieht, beobachtet diese interessiert.

„Wo habt ihr die her?“, fragt Mushina Linda und gibt die Flöte zurück. Stimmlage und Intonation lassen die geübten Ohren des Zwerges klingeln – hier gibt es ein verdeckte Informationen, und verdeckte Informationen sind das, worin er gut ist. Auch er lenkt sein Reittier näher heran und hört aufmerksam zu und beobachtet.
Linda nimmt die Flöte wieder an sich und betrachtet sie mit einem distanzierten Blick. „Ich habe sie von meinen Eltern,“ ihre Stimme nimmt eine eigentümliche Qualität an, „von meinen Geburtseltern. Sie war mit mir zusammen in das Tuch eingewickelt in dem mich meine Mutter getragen hatte als sie starb.“ Wider erwarten lächelt sie dann. „Irgendwie passend, dass sie keinen Ton macht, meint ihr nicht?“ Sie muss nicht hinsehen um zu wissen, dass Hrodger ihr eine Frage stellen will. „Natürlich habe ich Nachforschungen angestellt, aber nichts herausgefunden.“
Jetzt grinst dieser und richtet sich in seinem Sattel auf, Mushina verdreht ihre Augen. „Und schon geht’s los.“
„Was für eine glückliche Fügung, dass du mir begegnet bist, meine Liebe. Wenn es um fruchtlose Nachforschungen geht, hättest du es nicht besser treffen können. Ich bin ein Experte darin, Dinge herauszufinden die sich nicht herausfinden lassen wollen.“
„Ist das der Grund dafür, warum ihr ohne die Hilfe meines Onkels nicht mehr weiter gewusst habt und es mehrere Jahre gedauert hat ihn aufzuspüren?“, wirft ihm Linda grinsend hin.
Mushina schmunzelt, diese Art Wortgeplänlel hat sich zwischen den beiden im Laufe der letzten Monate eingestellt und irgendwie hat es tatsächlich dazu geführt, dass der Zwerg die junge Tiefling respektiert.
Die Geste, die er dieser gegenüber eben als Antwort zeigt, ist Beweis genug. „Willst du meine Hilfe oder nicht, du Niederhöllengezücht?“
„Wie könnte ich das Angebot eines Edelmannes ablehnen, der sogar die ausgewählten Blutlinien meiner Herkunft preist?“
„Bah“, ist die einzige Reaktion darauf bevor Hrodger seinen Esel wieder mehr antreibt.
Mushina lacht einfach nur. „Eine Reisegefährtin wie dich hätten wir schon viel früher gebraucht, Linda.“
 

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Dungeons & Dragons 5 - Dunkle Feder - Teil 6.3 "18 Meilen"

In Gesellschaft von Hrodger und Mushina macht Linda ganz neue Erfahrungen mit den ihnen begegnenden Menschen abseits der ihr vertrauten Dorfgemeinschaft. Die Gruppe von drei Nicht-Menschen – wobei man mit Ausnahme des Zwerges eigentlich von Halbmenschen sprechen müsste – wird zwar ebenso mit Argwohn betrachtet, allerdings deutlich weniger feindlich oder besorgt als wenn sie mit ihrer Familie unterwegs ist. Offensichtlich wird ungewöhnliches in Anwesenheit von ungewöhnlichem doch wieder gewöhnlich.
Mushina, ihren Blick richtig deutend, meint allerdings, dass sie sich daran nicht gewöhnen solle. „Manchmal reicht es auch schon, einfach nur ein Abenteurer oder fremd zu sein.“
„Oh ja, verdammt“, fällt sofort auch Hrodger ein, „kannst du dich noch an die Leute in Staublauf erinnern?“
„Kannst du? Schließlich hat es immer eine ganze Minute Stillstehen benötigt, bis du überhaupt etwas sehen konntest.“
„Halt’s Maul, du Dünnluftatmerin“, fährt der Zwerg die Halb-Orkin an, „aber ja, der Name ist treffend.“ fügt er dann aber jovial hinzu. „In jedem Fall hat es fünf Tage gedauert, bis irgend jemand bereit war mit uns zu reden, ganz abgesehen von denjenigen, die uns am liebsten ein Messer in den Rücken gejagt hätten.“
„Eine hat es auch probiert“, ergänzt die Kriegerin, „aber die Klinge ging nicht sehr tief und meine Antwort hat ihr noch weniger gefallen als unsere Anwesenheit. Ich frage mich, ob sie je wieder sprechen gelernt hat.“
Linda ist sich nicht sicher, was von dem Gesagten Scherz und was Wahrheit ist, aber das Bild, das die Geschichte zeichnet ist klar. Dass Leute nicht nur vor anderen Rassen, sondern schlicht und ergreifend auch vor Fremden so viel Angst haben können, erschüttert sie sichtlich. Wie isoliert muss man leben, um eine solche Ignoranz gegenüber andersartigem zu entwickeln? Die viel bessere Frage ist aber, wie kann man solche Personen aus dieser Grube sanft und umsichtig herausholen, wie sie erreichen und sie für das neue öffnen?

Das stumme Grübeln der jungen Tiefling geht auch an ihren Reisegefährten nicht vorüber. „Ich glaube, wir haben sie kaputt gemacht.“ Hrodgers Versuch eines Scherzes trifft nicht auf Gehör, was Mushina mit einem kurzen, missbiligenden Blick klarstellt. „Schon gut, schon gut, entschuldigung.“ Der Zwerg hebt abwehrend eine Hand.
Einige Zeit lang spricht niemand und Lindas Gesichtsausdruck scheint immer finsterer zu werden, bis sie sich mit zwei Fingern gegen die Nasenwurzel drückt und mit gefurchter Stirn aufstöhnt. „Ach, verflucht nochmal.“
Die Halb-Orkin blickt sofort auf und betrachtet ihre Mitreisende aufmerksam. Hrodger dreht sich in seinem Sattel zu dieser und fragt: „Was ist los, etwas vergessen?“
„Ach nein, nichts so unbedeutendes.“
Hrodger und Mushina wechseln einen Blick. „Was ist es dann?“, fragt er.
„Ich komme einfach auf keinen grünen Zweig. Alle Überlegungen enden früher oder später vor einer Wand.“ Die junge Frau wirkt erschöpft.
Wieder ein Blickwechsel zwischen den beiden anderen. Nach kurzem Zögern fragt der Zwerg weiter nach: „Was für eine Art von Wand?“
Ein tiefer Seufzer entfährt Linda bevor sie antwortet. „Die Wand der Unwissenheit.“
„Ohhh“, ist Hrodgers Reaktion darauf und auch Mushina macht einen verstehenden Gesichtsausdruck. „Eine Wand die man nicht so leicht einreißen kann ... nicht ohne beträchtlichen Schaden anzurichten.“ Mushina nickt nur stumm.
Lindas Blick zu den beiden ist mitfühlend. „Ja, ihr habt erzählt, dass ihr da durchaus eure eigenen Erfahrungen gemacht habt.“ Das wiederum irritert die beiden, schließlich haben sie aus ihrem eigenen Leben eigentlich so gut wie nichts erzählt.
„Was meinst du?“, fragt Mushina direkt nach.
„Oh, nicht wirklich erzählt, aber WAS ihr erzählt habt und vor allem WIE ... nun.“
„Respekt“, meint Hrodger erhlich anerkennend, „du bist schon deutlich gerissener als ich dir zugetraut habe.“
Mushina fügt hinzu: „Und dass er dir überhaupt was zugetraut hat, will schon was heißen.“
Hrodger möchte darauf wieder einmal grummelig reagieren, aber das Grinsen der beiden Frauen lässt ihn nur kopfschüttelnd seufzen.
 
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"Was die Steineiche sah" oder "der Versuch einer Teilnahme an einem längst vergangenem Geschichtenwettbewerb" - Teil 1

In alten Tagen, als noch Sagen und Legenden das Licht der Welt erblickten, ereilte einen Jungen ein trauriges Schicksal. Die Mutter starb noch im Kindbett und der Vater folgte ihr nach nur wenigen Jahren. Allerdings hatte dieser durch seine Arbeit bei der Stadtwache Freunde dort gehabt, die dem Jungen versprachen: "Wenn du ein Mann bist, dann komm zu uns, wir geben dir Arbeit." Doch bis dahin wollte sich keiner so recht um ihn kümmern, alle hatten eigene Sorgen und die Verwandten lebten in anderen Stadten weit weg.
So also wuchs der Junge in den Straßen auf und begann alsbald zu stehlen. Das konnte er auch ganz gut, denn er war geschickt und flink, oft hatte er aber auch Pech und lief der Stadtwache mit seiner Beute in Händen vor die Füße. Immer nahm man ihm alles mühsam ergatterte wieder ab, aber immer war auch einer dabei der sagte: "Ach lassen wir dem armen Waisen Hand und Freiheit, ich kannte seinen Vater gut." Einen Denkzettel in Gestalt einer Ohrfeige oder gar einer Tracht Prügel erhielt er dennoch meist, um sich daran zu erinnern, dass Stehlen falsch ist.
Mit der Zeit wurde ein alternder Dieb auf den Jungen aufmerksam und beobachtete seine Taten mit wachsendem Interesse. Eines Tages, nach einer besonders harten Abreibung durch die Stadtwache, trat der Alte an ihn heran. "Schöne Freunde sind das, die dein Vater da hatte, wollen dem Sohn eines verstorbenen Kameraden nicht einmal helfen." "Aber", stammelte der Junge da, "sie geben mir Arbeit wenn ich ein Mann bin und sie nehmen mich nie fest." "Hah! Wie sollst du denn je ein Mann werden, wenn sie dir nichts lassen um überleben zu können? Und schaffst du es dennoch, groß zu werden, bist du wahrscheinlich so schwächlich, dass sie keine Verwendung für dich finden und dir nur kümmerliche Hilfsdienste um einen Hungerlohn überlassen." Auf diesen Weg überzeugte er sen noch unreifen Geist und nahm ihn unter seine Fittiche. Ausgerüstet mit altbewährtem Wissen und neuen Tricks, gelang es dem Jungen nun immer öfter, den Stadtwachen auszuweichen und durch die Finger zu schlüpfen. Lediglich wenn er alleine und ohne Beute unterwegs war, fassten sie ihn manchmal, konnten ihn aber aufgrund dessen nie etwas nachweisen, was sie nicht daran hinderte, ihm vorbeugend dennoch ein paar hinter die Ohren zu geben.
Jetzt hatte er also einen festen Schlafplatz und regelmäßig etwas zu essen, aber reich wurde von der Dieberei nicht, da er sich nichts ansparen durfte. "Das ist dein Lehrgeld, Junge, schließlich arbeite ich hart an deinen Talenten", sagte der Alte ihm immer wieder und lebte recht gut von den Verdiensten seines Schützlings. Natürlich war das Leben dadurch besser geworden, aber andere Dinge verschlechterten sich auch. Die Stadtwachen, die ihn bisher zwar argwöhnisch aber immer noch gutmütig betrachtet hatten, misstrautem ihm zunehmend und immer mehr vergaßen die Vergangenheit seines Vaters. "Da siehst du es", sagte ihm der alte Dieb, "sie warten nur darauf, bis sie sich der Freundschaft deines Vaters nicht mehr verpflichtet fühlen. Du selbst interessierst sie nicht, also halte dich an mich, denn nur ich habe dein Wohl im Sinn." Genaugenommen hatte er sein eigenes Wohl und die Gewinne durch den Jungen im Sinn, aber das sagte der Alte natürlich nicht. Was er sich aber selbst nicht eingestand, war die Tatsache, dass der Junge ihm ans Herz zu wachsen begann.
 

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"Was die Steineiche sah" oder "der Versuch einer Teilnahme an einem längst vergangenem Geschichtenwettbewerb" - Teil 2

Mit der Zeit überließ der Alte dem Jungen immer mehr Anteil an der Beute und dadurch ging es diesem auch immer besser. Mit zunehmendem Wohlstand kam auch zunehmend das Gefühl der Sicherheit, damit Überheblichkeit und auch Unachtsamkeit, bis er wieder einmal von den Stadtwachen erwischt wurde. Dieses Mal hatte er viel Beute dabei, und dieses Mal erinnerte sich keiner an seinen Vater. "Eine Hand und ein Jahr deiner Freiheit, das ist der Preis den du für dein schändliches Tun zahlen wirst, du Lump!", brüllten sie ihn an, während sie ihn abführten. Als der alte Dieb davon erfuhr, wollte er es erst mit einem traurigen Kopfschütteln abtun, doch ließ ihm das Geschehen keine Ruhe. Die Beute war in dem Fall nicht einmal vom Jungen gestohlen worden, sondern von ihm selbst, er sollte diese Strafe ausfassen. Lange Stunden rang er mit seinem Gewissen, einer Stimme die sich seit Jahren nicht mehr gemeldet hatte, und nach einer schlaflosen Nacht gab er sich geschlagen.
Bei Sonnenaufgang stand er vor dem Quartier der Wache um sich zu stellen, beschrieb genau, wie er an die Sachen gekommen war, einen Teil dem Jungen als milde Gabe untergejubelt hatte, um von seiner Spur abzulenken, in dem Wissen, dass keine Wache der Geschichte desselben Glauben schenken würde. Aufgrund der Details und der Gemeinsamkeiten mit den Angaben des Jungen, glaubten sie ihm und nahmen ihn fest, außerdem hatte der Alte den anderen Teil der Beute mitgebracht und so auch Beweise vorgelegt. Dem Alten entfuhr ein Seufzer der Erleichterung, als er erfuhr, dass dem Jungen die Hand noch nicht abgeschlagen worden war und bat darum, vor dessen Entlassung noch einmal mit ihm reden zu dürfen. Die Worte waren voller Reue und Abschied, er sei zu alt um den Verlust einer Hand in Haft überleben zu können, aber die Worte waren zweitrangig, wichtig waren die Hände des alten, denn sie sprachen von ganz anderen Dingen. In der geheimen Zeichensprache der Diebe wies er den Jungen an, wo er alle Reserven finden könne und dass er damit die Stadt verlassen solle. "Fange ein neues Leben ohne Diebstahl an, riskiere nicht mein Schicksal", waren die abschließenden Anweisungen. Der Junge wollte sich dagegen wehren, aber der Alte beharrte darauf und nahm ihm schließlich das Versprechen ab.
Nach seiner Entlassung eilte der Junge, so schnell ihn seine Beine tragen konnten, zu dem angegebenen Versteck. Er blieb nicht stehen und dachte nicht weiter darüber nach, um seinen Gefühlen keine Gelegenheit zu geben, sich in sein Bewusstsein zu drängen. Beim Versteck angekommen, musste er aber mit ansehen, wie einige Männer dieses gerade plünderten. Zuerst verstand er nicht wie das geschehen konnte, aber dann erkannte er eines der Gesichter, es war eine der Stadtwachen. Offensichtlich kannte eine der Wachen die Fingerzeichen ebenfalls und hatte die Zeit, die der Junge mit betteln und flehen an den Alten verbracht hatte, genutzt, um mit einigen Freunden die Beute an sich zu bringen. "Was ist, wenn der Junge hier auftaucht?", fragte einer der Männer. "Dann sorgen wir dafür, dass er nichts erzählen kann, frag nicht so dumm." Der Junge aber beobachtete ohnmächtig, wie all seine Hoffnungen von fremden Händen zerrissen wurden. Er blieb in seinem Versteck bis die Männer wieder gingen und noch viele Stunden länger. Tiefe Verzweiflung hatte ihm jeden Tatendrang genommen.
 

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"Was die Steineiche sah" oder "der Versuch einer Teilnahme an einem längst vergangenem Geschichtenwettbewerb" - Teil 3

Ziellos und leer wanderte er durch die Straßen, die Nacht brach herein, er wanderte weiter, und erst als der nächste Morgen graute, nahm er seine Umgebung wieder wahr. Seine Füße hatten ihn zum alten Tempel im Herzen der fast aufgegebenen Altstadt geführt, ein verwahrlostes Gebäude, gebaut um den ältesten Baum der Gegend, einer massiven Eiche. Man erzählte sich, der Baum sei schon alt gewesen, als der erste Weiler hier entstanden war.
Als die Ansiedlung wuchs, so gingen die Geschichten weiter, wuchsen auch die Ansprüche an deren Gebäude und schon bald wollte man Häuser mit Kellern, doch dies gestaltete sich schwierig, da besagte Eiche ein weites Gebiet mit ihren Wurzeln durchwachsen hatte und sich diese angeblich nicht einmal mit dem schärfsten Beil verletzen ließen. Man hatte es auch mit Feuer versucht, jedoch vergeblich, und so wurde anderswo gebaut, nicht weit entfernt, aber dennoch rückte das Zentrum der Stadt von seinem Ursprungsort ab. Viele sahen die Eiche als Zeichen - manche als böses, manche als gutes - und so wurde ein Tempel um diese herum gebaut, ganz ohne Fundament, und siehe da, keine einzige Mauer wies auch nur einen Riss auf, als trügen die Wurzeln selbst das Gebäude. All die anderen Dinge, die man dem Baum zuschrieb - Langlebigkeit für die Bewohner rundherum, Unverletzlichkeit und Beständigkeit aller Unternehmungen in seinem Schatten - die bewahrheiteten sich nicht, und so schwand der Glaube und die Besucher des Tempels zunehmend. Zuletzt blieb nur eine Erinnerung daran in Form von Kindermärchen und romantischen Geschichten. "Es ist bloß ein wirklich hartnäckiger, alter Baum", sagten viele, kehrten diesem Ort den Rücken und haderten darüber, dass im Gegenteil die große Stadt mit all ihrem Dreck und Lärm die Leute krank und schwach mache.
Das Gebiet um den Tempel gehörte nun den Ausgestoßenen, den Schatten und all jenen, die noch auf alte Wunder hofften. Als Schatten fühlte sich auch der Junge, also trat er in den Tempel ein, hockte sich an den Fuß der Eiche und lehnte sich gegen dessen Stamm. "Ach alte Eiche, warum bist du kein Wunderbaum, ich würde zu dir beten und hätte so wenigstens noch Hoffnung." Da fiel ihm ein, dass er tatsächlich in seinem Leben noch kein Gebet gesprochen hatte, also rappelte er sich auf, wandte sich dem Baum zu und sah in dessen mächtige Äste hinauf. Als er begann, bat er um Anleitung was er tun solle, um Voraussicht sein Schicksal rechzeitig erkennen zu können, er bat um Reichtum mit dem er von hier fort könne, und um immer andere Dinge, die ihm helfen sollten - jedoch der Baum zeigte keine Reaktion.
Der Junge wusste nicht, was er erwartet hatte, aber plötzlich packte ihn wieder die Verzweiflung. Diese wandelte sich schließlich zu Wut, Wut auf den Baum, der ihm so indifferent gegenüberstand und den all sein Leid nicht rührte. Er brüllte den Baum an, beschimpfte ihn, trat ihn, spuckte auf seine Rinde. Zuletzt überkam ihn Resignation und er sank vor der Eiche zusammen, kauerte sich zwischen die dicken Wurzeln und brachte schluchzend eine letzte Bitte hervor. "Verleihe doch wenigstens dem alten Dieb deine Stärke, Wiederstandskraft und Langlebigkeit. Er hat seine Taten bereut, er soll nicht sterben müssen."
"Das war der erste ehrlich selbstlose Wunsch seit hier Menschen leben", antwortete ihm die Eiche.
 
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"Was die Steineiche sah" oder "der Versuch einer Teilnahme an einem längst vergangenem Geschichtenwettbewerb" - Teil 4

Erschrocken fuhr der Junge hoch und blickte sich um, woher die Stimme gekommen war - bis er feststellte, dass er gar nichts gehört hatte. Die Worte waren einfach in seinem Kopf aufgetaucht, wie Blüten, die sich in der Morgensonne öffnen, und nun ertötnte ein abgehacktes Knarren wie von alten Ästen, die sich bogen. Aus einem Impuls heraus wollte er gerade den Mund öffnen und fragen, wer da mit ihm gesprochen hatte, aber bevor es dazu kam, pasierte es erneut. "Der, auf dessen Wurzeln du sitzt. Ich werde dir helfen." Aus Reflex sprang er auf und sah zu Boden, folgte dann den Wurzeln bis zum Stamm und trat schließlich ein paar Schritte zurück, um abermals an der Eiche emporzublicken, deren uralter Stamm mehrere Meter durchmaß. Wiederum ertönte dieses Knarren und ein weiteres Mal formte sich ein einzelnes Fragewort im Geist des Jungen, und ebenso wie vorhin musste er es nicht aussprechen. "Meinst du, wie ich mit dir sprechen, oder wie ich dir helfen kann?" Es fühlte sich an, als formten sich die Worte aus knarrendem Gehölz in seinem Bewusstsein, was auch den letzten Zweifel ausräumte, dass es wirklich der Baum war, der hier zu ihm sprach. "Gut. Das vereinfacht die Sache. Es ist nicht immer leicht, musst du wissen. Manche wehren sich gegen ungewohnte Tatsachen."
Mittlerweile bemühte der Junge sich nicht mehr, Worte formulieren zu wollen, sondern definierte nur noch seine Bedürfnisse und Gedanken für die Eiche. "Dann werde ich dir helfen, dem Wunsch des alten Mannes nachzukommen, denn den deinen kann ich dir leider nicht erfüllen." Auf die Verwunderung woher der Baum die Worte des alten Diebes kannte, ging dieser auch sogleich ein und erklärte, dass seine Wurzeln das gesamte Stadtgebiet durchwuchsen und über dieses Netzwerk, konnte die Eiche alles beobachten, was in der Stadt geschah. "Wo immer du eine meiner Wurzeln berührst, und du wirst sie erkennen, lasse ich dich über sie sehen und hören, was auch immer sich in deren Nähe zuträgt." Welchen Vorteil ihm das bringen würde, war dem Jungen natürlich sofort klar, allerdings nicht, warum er diese Hilfe erhielt. Ein Geräusch wie ein Windstoß ging durch die Blätter und Äste, wenn das Knarren von vorhin etwas wie Lachen war, dann war dies ein tiefes Seufzen. "Es ist lange her, seit Menschen zu mir beteten, und noch länger, dass ein nicht rein eigennütziger Wunsch geäußert wurde. Solche Seltenheiten müssen genutzt werden."
In den folgenden Tagen lernte der Junge, wie er die Gabe des Baumes nutzen konnte und welche Stellen in der Stadt besser, schlechter oder manchmal auch gar nicht von den Wurzeln abgedeckt wurden. Wie auch unter dem Dieb, lernte der Junge schnell und stellte sich sehr geschickt an, so dauerte es nur einige Wochen, bis der Baum ihn nur noch selten anleiten musste. "Nun kennst du das Bild der Bilder und den Klang der Klänge, die ich wahrnehme. Du kannst nicht wirklich meine Sinne nutzen, nur deren Abbilder und Widerhall stehen dir zur Verfügung - interpretiere sie also mit Bedacht." Zum ersten Mal seit dem Gebet an jenem schicksalhaften Tag, richtete der Junge wieder gesprochene Worte an die Eiche. "Ich danke dir, alter Baum. Fast dauert es mich, dass ich dich am Ende verlassen muss." "Keine Sorge, junges Menschenkind, ich habe mehr Abschiede erlebt als Menschen auf meinen Wurzeln laufen. Außerdem war es der Wunsch deines Mentors." So kehrte der Junge also wieder in das Leben der Stadt zurück und stellte fest, dass diese ihn in den drei Monaten, die er im alten Tempel geblieben war, vergessen hatte.
 

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SIE

Scheinbar ziellos irrt er über das Feld, das einmal grün gewesen war. Jetzt ist Rotbraun die vorherrschende Farbe, zumindest dort, wo zwischen toten Soldaten, Pferden und Hunden noch Boden zu sehen ist, zerstampft und getränkt mit halb geronnenem Blut. Seine unregelmäßigen, schleppenden Bewegungen sind aber alles andere als ziellos, denn er sucht SIE.
Er braucht SIE.
Sie alle brauchen SIE.
Ohne SIE sind sie verloren.
Ohne SIE hat nichts mehr Sinn.
Ohne SIE ... ist es aus.
Er muss SIE finden, SIE beschützen, mit allem was er hat - mit allem was er ist. So wie jener andere SIE beschützt hat, bis dieser gefallen war, und SIE mit ihm. Er hatte es gesehen und der Anblick hatte ihn mit Panik erfüllt. Auch andere hatten es gesehen, manche waren geflohen, andere hatten versucht, zu IHR zu gelangen und den Tod dabei gefunden. Auch er hatte sein Heil in der Flucht gesucht. >Ich bin zu weit weg<, hatte er sich gesagt, >Ich kann nichts tun<. Feige war er gewesen, hatte sich mit anderen zusammen versteckt und um sein Leben gebangt. Niemand hatte sie verfolgt, und wozu auch? Ohne SIE sind sie keine Gefahr mehr, keine Bedrohung ... ein Nichts.
Er muss SIE finden.

Ein Geräusch durchdringt seine fieberhafte Besessenheit und er erstarrt. Was ist das? Da - da ist es wieder. Hatte der Feind seinen Fehler doch noch erkannt, dass SIE noch hier ist, noch hier liegt, irgendwo? Sucht der Feind auch nach IHR? Er muss sich beeilen, der Feind darf SIE nicht in die Hände bekommen, er darf nicht versagen, nicht jetzt. Gehetzt sieht er sich um, tastet die Umgebung mit seinen Blicken ab, in der Dunkelheit sieht alles anders aus, unwirklich, falsch - als sei alles nur ein abstraktes Szenenbild auf einer endlosen Bühne.
Das Geräusch kommt näher, langsam, schleppend. Es klingt wie Schleifen auf Stein, dann Metall, dann wie Schlurfen und Schmatzen - und ein seufzendes Stöhnen. Alte und längst vergessen geglaubte Ängste aus grauer Vorzeit schleichen sich in sein Bewusstsein, die dunkelsten und dämonischsten Wesen scheinen Realität zu werden. Aus dem Augenwinkel registriert er eine Reflektion von Mondlicht, sein Kopf fährt herum, die Waffe ruckt hoch, bereit zu töten. Sein Atem geht schnell und wieder greift Panik nach seinem Herz, droht, sein Herz zu zerquetschen - nichts.
Seine Augen bemühen sich, das Zwielicht zu durchdringen, irgend etwas zu erkennen - da. Eine Bewegung am Boden, etwa hundert Schritt von ihm entfernt. Jemand - oder etwas? - kriecht dort über den Boden, durch blutgetränkten Schlamm, über Körper und Unrat. Langsam und vorsichtig bewegt er sich darauf zu, nähert sich, die Waffe kalt in seinen schwitzenden Händen. Nur noch wenige Schritte. Es scheint ihn nicht zu bemerken, und dann - Erkennen. Es ist der andere, die Kleidung zerrissen, die Rüstung aufgerissen, der Körper mit Wunden übersäht - und in seiner linken, fest an die Brust gedrückt, SIE. Blutig, mitgenommen, aber in Sicherheit.

Mit wenigen Sätzen ist er bei dem anderen, der sich unter Schmerzen voranschleppt. Als er diesen bei der Schulter fasst und auf den Rücken dreht, keucht dieser erschrocken auf, Angst und Verzweiflung stehen in seinem Gesicht. Angst vor dem finalen Verlust, Verzweiflung darüber, dass alle Mühen und Qualen vergebens seien. Mit beiden Händen presst er SIE an sich, ein letztes Aufbäumen gegen das Unvermeidbare. Nur langsam begreift der andere, wer über ihm steht. Dann ergreift Erleichterung seinen ganzen Körper und Stolz erfüllt seine Haltung. Triumph.
Mit zitternden Händen hebt der andere SIE ihm entgegen und er nimmt SIE, vorsichtig, behutsam, immer noch ungläubig. Ein prüfender Blick vertreibt aber den letzten Zweifel, SIE ist es tatsächlich. Als er wieder zu dem anderen hinuntersieht, sind dessen Glieder erschlafft, alles Leben aus der sterblichen Hülle gewichen, aber auf den Lippen ein Lächeln und in den toten Augen Frieden.

>Danke<, denkt er bei sich an den anderen gerichtet. Schließlich wendet er sich ab, mit IHR in seinen Händen, mit neuer Hoffnung, mit einer neuen Aufgabe.

Jetzt ist er der Träger der FLAGGE.
 
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"Was die Steineiche sah" oder "der Versuch einer Teilnahme an einem längst vergangenem Geschichtenwettbewerb" - Teil 5

Die vergangenen Erlebnisse hatten den Jungen durchaus etwas gelehrt, und so nutzte er diesen Umstand und konzentrierte sich darauf zu beobachten, was mit seinen neu erlernten Fähigkeiten auch ungleich einfacher war. Nach mehreren Wochen hatte er die ersten Hinweise darauf, wer den Hort seines Mentors geplündert hatte, doch sein altes Gefühl der Rache verpuffte schnell, als er feststellte, dass diese ebenfalls nur arme und verzweifelte Menschen waren. Ja, einer davon arbeitete bei der Stadtwache, aber der Verdienst eines einfachen Gardisten reichte nur, um sich selbst über Wasser zu halten, eine Familie konnte damit keines Falles versorgt werden. Auch erfuhr er, dass es den meisten Leuten, die er bisher als reich und habgierig angesehen hatte, mit dem Geld nicht viel besser ging. Sogar jene, die mehr besaßen, taten dies meist, um von anderen akzeptiert zu werden mit denen sie Geschäfte abwickeln wollten - anderenfalls gäbe es kein Geschäft. So stahl er nur noch dann, wenn das Fehlen der betreffenden Dinge nicht ins Gewicht fiel und um nicht selbst zu verhungern.
Mit Aufmerksamkeit und Geduld fand er aber doch zwei Arten von Menschen, die es verdient hatten, bestohlen zu werden - Scharlatane und Blutadel, wobei die Grenze zwischen diesen beiden nicht selten fließend war. Diese beiden Gruppen hatten sich zum Ziel gesetzt, oder kannten es nicht anders, mit möglichst wenig Aufwand möglichst viel anzuhäufen und zu behalten, und das meist auf Kosten anderer. Selbstverständlich hätte der Junge am Liebsten gleich die Reichsten unter diesen um ihr Hab und Gut erleichtert, aber so dumm war er schließlich nicht mehr. So begann er ganz unten, wie kriechender Schimmel, nie zu viel aber stets genug, damit die Betroffenen es spürten. Erwischt oder auch nur verdächtigt wurde er dabei nie, obschon es oft genug recht knapp war, und so verfeinerte er seine Kunst mit unterstützung der Eiche. Die Scharlatane begannen schließlichd damit, einander zu verdächtigen und zu beschuldigen, bis es zu den ersten Handgreiflichkeiten kam, die schließlich weiter in Duelle, Überfälle und schlussendlich Meuchelmorde eskalierten.
Davon bekam der Junge allerdings nicht wirklich viel mit, denn er hatte sich in den Rängen schon nach oben gearbeitet und befand sich in einer Art Rausch der Rechtschaffenheit. Er sah sich als Rächer der Betrogenen und wollte seinen verborgenen Einfluss nun auf die Unterdrückten ausweiten, also wandte er sich endlich dem Blutadel zu. Zwar vergaß er nie den letzten Wunsch seines Mentors, aber er empfand es als heilige Mission, nicht vor dem obersten Missetäter halt zu machen und hatte dafür auch schon ein beachtliches Maß an Mitteln zusammen. Zuerst musste er sich mit diesen Leuten vertraut machen, ihren Umgang studieren, ihre Gepflogenheiten erlernen, wofür ihm die Wurzeln des Baumes durchaus hilfreich waren, und sich schließlich in ihre Gesellschaft einschleichen. Zu diesem Zweck wandte er einen großen Teil seiner angehäuften Beute für ein kleines aber wohlhabendes Anwesen auf und lud die betuchte Gesellschaft zu einer Vorstellungsfeier ein. Natürlich ließ sich der Blutadel nicht einfach so dazu herab, einen dahergelaufenen, neureichen Bengel mit ihrer Anwesenheit zu beehren, aber zumindest anderer Geldadel und wohlhabende Bürger nahmen diese Gelegenheit wahr, was auch einzelne Blutadelige mit finanziellen Nöten dazu veranlasste, zumindest einen Vertreter zu schicken - potenitelle Geldgeber im Austausch gegen Titel und Sozialkontakte sollten nicht gleichgültig von der Hand gewiesen werden.
 

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"Was die Steineiche sah" oder "der Versuch einer Teilnahme an einem längst vergangenem Geschichtenwettbewerb" - Teil 6

Die Pläne des Jungen hatten jedoch ganz anders ausgesehen, und durch sein mit der Gabe der Eiche erlangtes Wissen war er schnell als willkommener Gast der Oberschicht etabliert. Nicht, dass niemand diesen Emporkömmling als Gefahr gesehen hatte, aber jeder Versuch, ihn auszuspionieren oder beseitigen zu lassen, war auf unterschiedlichste Art fehlgeschlagen, fast so als wären die besagten Pläne bereits bekannt gewesen. Man hatte also ein ausgiebiges und undurchdringliches Informantennetzwerk vermutet, was wiederum nahegelegt hatte, sich diesen jungen Mann lieber als nützlichen Freund als unüberwindbaren Feind zuzulegen. In den folgenden Monaten hatten einige der hohen Häuser des Blutadels wiederholt Verluste in Ansehen und Eigentum zu beklagen, jedoch war nie ein relevanter Verdacht auf den Jungen gefallen, da diese Ereignisse nie mit ihm in Verbindung gestanden hatten. Hingegen hatten sich Gerüchte, Misstrauen und Intrigen unter den hohen Herrschaften breit gemacht und immer mehr derselben hatten damit begonnen, sich der zunehmend organisierten Unterwelt zuzuwenden, was selbstverständlich auch auf die Betätigungen des Jungen zurückzuführen war. Immer mehr und größere Geldbeträge hatten von reichen in skrupellose Hände gewechselt, bis es soweit gekommen war, wie es kommen hatte müssen - man war miteinander ins Gespräch gekommen und hatte ein paar Gemeinsamkeiten festgestellt.
In beiden Kreisen waren das Auftreten des Jungen und der Beginn der Probleme immer in etwa zur gleichen Zeit geschehen, außerdem hatte es nie genug mögliche Täter gegeben und lediglich die wahrgenommenen Umstände hatten den Jungen nie als Verdächtigen erscheinen lassen. Als man diesen bei einer für ihn ungünstigen Gelegenheit darauf angesprochen hatte, war er sich seiner Position bereits so sicher gewesen, dass ihm ein entscheidender Fehler unterlaufen war. Zu guter Letzt hatte er fliehen und wieder in alter Manier sein Talent in den Straßen nutzen müssen, doch diesmal war seinen Verfolgern nicht entgangen, dass er irgend eine Art Trick angewandt hatte - nur die Natur desselben war ihnen nicht erschließbar gewesen. Schließlich hatte man auf ein altbewährtes Mittel zurückgegriffen und ein Kopfgeld auf ihn ausgestellt. Es sei unmöglich, so waren alle überzeugt gewesen, dass er alle gleichzeitig beobachten könne. Allerdings war es genau das, was er tatsächlich getan hatte und er hatte sich in diesem Wissen und dem Gefühl der Macht gesuhlt, die ihm dies verliehen hatte. Seine Maskerade war aufgeflogen, also hatte er keine Dünkel mehr, seine Fähigkeit in vollem Umfang und ohne Einschränkungen einzusetzen. Kein Winkel der Stadt war ihm mehr heilig und keine Information mehr zu intim gewesen, um seine Pläne voran zu treiben. Dadurch hatte er immer so viel in der Hand und durch sein vorhergehendes Wirken noch ausreichend Ressourcen gehabt, dass er trotz des stets wachsenden Kopfgeldes immer Leute fand, die ihn in seinem Streben unterstützt hatten.
Diese Verbissenheit, gepaart mit seinem stetig wachsenden Hochmut und dem Gefühl des gerechten Zornes aber waren es gewesen, die seine Feinde schließlich zu einer äußerst drastischen und riskanten Tat getrieben hatten.
 

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"Was die Steineiche sah" oder "der Versuch einer Teilnahme an einem längst vergangenem Geschichtenwettbewerb" - Teil 7

Mythen, Legenden und Schauermärchen hat es in jeder Welt und allen Zeiten gegeben, manche davon hatten sich jedoch als wahr erwiesen. Die gesamte Stadt war unter Schock gestanden, als sich die Berichte über das Wesen, das zur Jagd auf den Jungen geholt worden war, bestätigt hatten - eine Gorgone, eine Wesen finsterster Alpträume, der Unterleib der einer riesigen Schlange, von der Taille aufwärts eine menschliche Frau, lange Klauen an den Händen, eine gespaltene Zunge hinter scharfen und spitzen Zähnen, zahllose Schlangen statt Haare, und Augen die kein lebendiges Wesen beschreiben konnte, da deren Blick alles und jeden mit eigenen Augen sofort zu Stein erstarren hatte lassen. Warum, so musste man sich gefragt haben, sollte jemand eine solche Monstrosität je angeblickt haben wollen? Weil, so war von den Geschichten berichtet, ihr Gesicht dem eines Engels geglichen haben soll. Wenn wir die ganze Zeit beobachtet werden, so hatten sich die Adeligen und Betrüger gedacht, so sollen jene die ihm helfen doch jetzt einen Blick wagen.
Einige hatten sich selbst versichern wollen oder sich eingebiltet, schnell genug wegsehen zu können, um diesem grausamen Schicksal zu entgehen und alle Opfer der Gorgone waren im Nachhinein als geheime Kollaborateure des Jungen verurteilt worden. In ihrer Wut und Verzweiflung, den unbequemen Neureichen in die Knie zu zwingen, hatten sie die so entstandenen Statuen auf dem Hauptplatz aufstellen lassen und es war ihnen egal gewesen, wie viele dabei ihr Leben gelassen hatten. Bald schon war das Leben in der Stadt beinahe vollständig zum Erliegen gekommen, die Bürger hatten sich verbarrikadiert und Geschäfte wurden nur noch durch Mittelsmänner des Adels und ihrer Mitverschwörer abgewickelt, wobei diese natürlich einen ordentlichen Anteil eingefordert hatten. Jedoch hatte die Angst immer noch mehr Gewicht gehabt als die Unzufriedenheit, also waren jene die es konnten Leute weiterhin zu Hause geblieben und hatten das Haus nur verlassen, wenn es keine andere Möglichkeit gegeben hatte. Der Junge hatte sich weiterhin relativ frei in der Stadt bewegt, da er durch die Eiche schließlich stets die Möglichkeit gehabt hatte, die Bewegungen der Gorgone zu verfolgen, natürlich immer darauf bedacht, nicht in ihr Gesicht zu blicken.
Nach einigen Tagen war ihm aber der Gedanke gekommen, dass er ja eigentlich nie in Gefahr gewesen war, schließlich waren es nie seine Augen gewesen, die auf das Wesen gerichtet waren. Der Baum hat keine eigenen Augen, hatte er sich überlegt, also hat das Ungeheuer keine Macht über ihn und ich selbst bin es ja nicht, der hinsieht. Sicher war er sich dabei nicht gewesen, aber immer mehr hatte er sich selbst davon überzeugt, dass dies tatsächlich der Fall gewesen war. Irgendwann war er von der Idee, das Gesicht einer Gorgone gesehen zu haben ohne dabei ihrem Zauber erlegen zu sein, so besessen gewesen, dass er nicht mehr länger gezögert hatte. Die Suche über die Wurzeln der Eiche war ihm schon so zur zweiten Natur geworden, dass er nicht lange gebraucht hatte, den Aufenthaltsort des Wesens aufzuspüren und zu erkennen, welche Wurzel ihrem Antlitz gerade am nächsten gelegen hatte. Als er sich auf eben diese Wurzel konzentrierte, hatte ein einziger Gedanke in seinem Kopf vorgeherrscht - er hatte seinen Feinden einen Brief schreiben wollen, in dem er das Gesicht dieses Ungeheuers genau beschreiben hatte wollen.
 

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"Was die Steineiche sah" oder "der Versuch einer Teilnahme an einem längst vergangenem Geschichtenwettbewerb" - Ende

Ein Knirschen und Knacken hatte die gesamte Stadt durchzogen, alle Gebäude hatten vibriert, Straßenpflaster waren aufgebrochen, Mauern hatten Risse bekommen und ein paar Häuser waren sogar teilweise oder ganz eingestürzt. Der Schrei, der den Beginn dieses Bebens begleitet hatte, war fast ungehört verhallt, und jene die ihn gehört hatten und zu seiner Quelle gefolgt waren, hatten ein gar seltsames Bild vorgefunden. In der Mitte des alten Tempels hatte nach wie vor die alte Eiche gestanden, jedoch stark verändert, da sie kein Blatt mehr getragen hatte, die Rinde ergraut und rissig geworden war und einige Äste waren sogar abgebrochen und zu Boden gestürzt. Der alte und als ewig angesehene Baum war zu Stein geworden und also auch seine Wurzeln, die einen großen Teil der Stadt durchzogen. Diese Wandlung war natürlich nicht ohne Nebenwirkungen von Statten gegangen, und als die Bewohner der Stadt sich der Zusammenhänge gewahr geworden waren, dass die fürchterliche Macht der Gorgone ihren fast vergessenen aber insgeheim als Herz der Stadt betrachteten Baum erstarren hatte lassen, hatte der Frust und die Wut alle Dämme gebrochen.
Jene die das Monster in die Stadt gebracht und somit den Tod vieler verschuldet hatten, waren von Bürgern und Unfreien ebenso gejagt worden wie all jene, die als ihre Verbündeten gegolten hatten. Wütende Mobs hatten die Straßen verstopft und jeden Adeligen und Betrüger gerichtet, derer sie habhaft werden hatten können, wobei ihnen jedes Mittel recht gewesen war. Selbst die Gorgone hatte ihr Leben gelassen, begraben von steinernen Statuen mit vor Hass verzerrten Gesichtern, weil die Leute über die Statuen erstarrter Angreifer geklettert waren und sich auf sie gestürzt hatten. In der Luft von ihrem Blick erfasst, waren sie stocksteif und steinern auf das Monster herabgestürzt und hatten sie schließlich mit ihrem Gewicht erdrückt. Die Unruhen hatten mehrere Tage angedauert und jene Adeligen und Scharlatane die nicht getötet worden waren, hatten ihr Heil in der Flucht gefunden. Die Statuen all jener, die bei der Fahndung durch die Gorgone und den Unruhen gestorben waren, waren anschließend zum alten Tempel gebracht worden, manche im Ganzen, manche nur noch in Stücken, durch die Wildheit und Wut der letzten Tage zerborsten. So wurde ein Denk- und Mahnmal errichtet, das an die Ereignisse erinnern hatte sollen.
Niemand allerdings hatte an jenem Tag des Bebens die kauernde und aschbleiche Gestalt bemerkt, die zwischen den Wurzeln der Eiche gelegen hatte, jene Person, deren Kehle den Schrei entwichen war. Es war der Junge gewesen, zutiefst erschüttert und bis ins Mark von dem Schrecken durchzogen, den er durchlebt hatte. Der Blick durch die Wurzeln, das unbeschreibbare Gesicht der Gorgone, die fesselnde Ausstrahlung ihrer Augen und schließlich die starre Kälte, die ihm in jede Phase seines Wesens gekrochen war. Ohne den Baum und dessen Geschenk, hätte ihn die Volle Macht der Gorgonenmagie getroffen, so aber hatte die Eiche das meiste abgefangen und den vollen Preis dafür bezahlt. Doch auch im Inneren des Jungen war etwas versteinert worden und er hatte Stunden benötigt, sich soweit wieder zu fassen, dass er aufstehen hatte können. Der Blick, den er an der versteinerten Eiche hochgleiten hatte lassen, war leer gewesen, den Lärm aus den Straßen hatte er nur dumpf wahrgenommen, seine Glieder waren steif geworden und seine Haare grau. Tiefe Furchen hatten sich in sein Gesicht gegraben, von seiner Jugend war nichts mehr erkennbar. Niemand bemerkte den gebeugten und vermeintlich alten Mann, der in jener ersten Nacht der Aufstände die Stadt verlassen hatte.
 
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The Gaia Complex (new Cyberpunk RPG-System in the making) - "A Dark Pact" (or "Being Richie Crosswell")

You know, in the beginning it felt weird and exciting, stepping into the light and being someone else entirely, but quite soon i realised, the real thrill comes afterwards. As soon as the show was over and the lights went out, my brain would register all the adrenaline and dopamine in my system. That were the moments i really longed for in the early times, but in the end it has been different. I’d been on an all time high, acting and pretending as if i never left the eye of the camera, and when i finally crashed i would fall into a deep and dreamless sleep, awaking seeminly within the blink of an eye, and time just jumped several hours because it could’t bear a second without me.
That energy carried me through all the ranks and society circles, even through the dark ones. The first time one of those cartel types knocked on my door, i remember it vividly, he was an attractive guy, one i would have liked to kiss if he hadn’t acted all dominant and business like. They had made an error, sending that simple goon to me, or maybe it has been his own idea to confront me with his ... cooperation proposal. Anyway, i played him for a few days and farmed enough information off of him, getting to know a few names an what kind of white collar syndicate he was trying to impress here. Then i offered him a meeting with some of his associates, not telling of course, that there would be additional guests.
He and five others got arrested for bribery, coercion and attempted blackmailing and, on the basis of my recordings of all the meetings (Hey, Richie Crosswell is a media guy. Surprise!), were found guilty on all charges. Of course i didn’t keep the money, i donated it to some caritative organization i forgot the name of, one that was popular back then. You know how the game is played, don’t you?
Anyway, a few months later another visitor came to me, and i can tell you that, she was a real professional. Attractive, eloquent, literated and perfectly briefed, she even had a secretary, an accountant and a lawyer accompanying her. I appreciate a good act, but this has been the real deal. Every single one of them had his own killer instincts, they reeked of subtle threats, everyone felt humbled and uneasy in their presence but only i could put a finger on it. They were mercs. I had expected something like that, but now i knew how hot it really has gotten. My bodys own drug coctail swamped my system and i fell right into step with the rhythm of this deadly dance.
It took me nearly every trick of the trade to convince them to not make this ugly, so i went with them on my own terms. Their contractor showed no interest at first, only wanted to remind me that even the lowest of her flock are not to be messed with. Well, if that kid hadn’t been so naive, he would’ve backed off and called the real shots in, so i guess i’ve done her a favor, getting him and his friends locked up for a little while. I don’t know if she knew i was right or she just liked the way i sold my case, but she called the shot off – for an appropriate price of course.
This was my final step into the highest ranks of the media and my first into organized crime. From this moment on, the rush never seemed to stop and i relished it. The edge of everyday media had gotten blunt, so this new twist was all i could have asked for, and what should i say ... it skyrocketed.

20 years later i sit in my penthouse, speedviewing the last 6 hours of newscasts. Those pesky little fucks from channel 8 really know how to play their audience. Nothing like a never ending romance-rumor to capture the hopes of broken peasants and hold them captive. At least they respect my turf in Old Berlin and play the act of being good buddies with me, but outside of this grumpy old plex, the heat is on. You gotta keep sharp or it’s rusty iron faster than you can blink into the cameras.
I feel it more in my gut than with my senses when its presence takes form in the room. “You are early tonight.” It’s as if the shadows move together to join each other within this twisted frame of a thing that may be related to humanity somehow.
In the wake of the vampires outing 8 years ago, my star has risen to the top of Old Berlins media, not without help of my criminal associates of course. I’ve even been in the first row of reporters when Kellesaar had her infamous speech and got dibs on the coverage of the developments of Vectron BioMed. That’s also how i got into a new shade of black.
The Syndicate was interested in that kind of monopoly of course, but the stakes were high – very high and barbed and poisoned and littered with corpses. So i tried the educational angle on this one and after some years i finally got my hands on a few samples of this so called blood substitute. I handed them over to the whitecoats of the organisation and soon enough there was real blood flowing, and again i got visitors. They blamed me for being not careful enough and letting information leak out. Yeah, bullshit, i know my trade. And i know, when something is more than it seems, so they took me to the scene and i started to snoop around as only a media hound can do it.
I had my share of ugly crime scenes, believe me, but this was something else. Bodyparts and entrails and gore everywhere, bullet holes and burnmarks of grenades, the whole package, but something was off. Not enough. Don’t get me wrong, there were puddles and ponds of blood and masses of bodily remains, but still not enough, because i knew they had test subjects to >donate< blood for comparison and to probe the effects of it inside of the human bloodstream. There were some missing and their blood samples also.
I got a trail and i followed, and i swear it was the hardest nut i ever had to crack – and i didn’t. Maybe i would have, but the answer came to me on it’s own free will. I nearly soiled my pants when it did, high tier media and crime can only harden you so far, but when a Norl pays you a visit, all those feral flight instincts go haywire. Of all the things that could end my life, i never thought about that possibility, so somehow i felt wickedly honored. But it didn’t kill me, it spoke.
“Why are you doing this?” With a voice that felt like a frozen blade plunged into steaming blood.
My heart missed some beats and i nearly fainted, but then my social predator senses kicked in. Talking, now that i can. “I want the truth.”
“What truth?”
“What that stuff really is.”
“What do you think it is?”
For that i needed a short consideration. Then, with a shrug that felt more like a nervous twitch: “Not the real deal.”
Now it was its turn to remain silent for a moment. I could feel it’s gaze, it’s hunger, it’s absolute capability to end me in a blink and not even ruin the carpet doing so, and that it was wheighing my worth as anything else than a corpse.

That’s 2 years in the past now and again i stand together with that thing made out of shadows and nightmares. It still creeps me out but i got somewhat used to it and added it to the things that keep me staying on edge. It has let me do what i did and even pulled some strings of its own in the underworld, that’s how i ended up being a player and having my own little niche there. Information brokering and whitewashing mostly, a bit of illegal research, some blackmail and bribery, nothing too fancy, but enough to throw my weight around if need be. So far i steered clear of the big wigs and in reverse they let me have my share as long as we greased each others hands.
My research mainly goes into that blood stuff and finding out what it really is. Bogeyman drops by from time to time to ask about my progress and has proven to be very patient and educated on that matter. I asked it for a name but it just denied any input to that matter, so i joked about calling it Bogeyman. “If you feel better that way”, it just supposed and we stuck to it. I even started to mention it in some news features to promote my drive for the truth in the name of the common people. Brought me a few laughs and for some weeks other media stars tried to shitstain me on it, but naturally i came out of that with the upper hand. Everyone loves a good folklore monster now and then.
So the two of us sit in my Penthouse, okay, Bogeyman rather squats in its dark corner, i never have much light on, when it’s dark outside it shouldn’t be too bright inside, always had that approach. I sift through my latest laboratory reports and display them on a secondary screen, so that Bogey can also get a good look on everything. From time to time it asks an elaborate and pointed question and i try to answer it to my best knowledge, that thing knows its trade at least as good as i mine, let me tell you that.
A soft beep informs me, that my blood bag is filled and i close and unclasp the tube from my arterial line and put the bag on a low table beside the couch. “Here’s your fix.”
We have this agreement, i give it some of my blood now and then and it provides me with exclusive information regarding my research, also we share some contacts and i receive suitable probands for the tests in the labs. We both never ask questions about the methods, that’d be impolite.
It reaches out and takes the bag, which disappears in the rags it wears. “You seem to resign on our shared interest.” I know there is a threat implied, there always is.
“It just never comes to anything reliable. I start to think it has something to do with magic.”
“You love mysticism.”
Was that a snide? “Humanity always flees into the inexplicable when logic fails. I just know how to instrument that mechanic.”
It suddenly rises, hunkers over me and makes that sniffing thing it so often does when playing the predator card. “You are still one of them, don’t think i don’t see you as prey.”
“Oh please”, i interrupt nearly unfazed, “this has nothing to do with being human or not, this is about business. You need something i can provide and won’t get if you kill me.”
“And what do you get out of that deal?”
“Money, prestige, influence, safety and the opportunity to do pretty much as i please.”
“So why don’t you?”
There. Damn it and its perfectly honed senses and abilities to read a person. I hold up my masquerade, but it already has seen through it. After a moment of silence it chuckles, a wet rustling sound much like gravel in a draining sink. “You are an interesting one. One i can live with.”
“Is it really living, or merely surviving?” I ask out of an impulse to pay back for the previous sting. It looses it’s smirk.
I’ve touched a sensitive subject, but i understand that it knows i mean no real offense with that. It’s rather some sort of empathy. “Yes”, it answers and vanishes into the darkness. Now it is my turn to smirk. And there i thought, it’d never show anything human.
 
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Dungeons & Dragons 5 - Dunkle Feder - Teil 7.1 "21. Stunde"

Gegen Sonnenuntergang kommen die drei schließlich in einem Dorf vor der Stadt an, zu spät, als dass sie die Stadttore noch offen ereichen könnten, also kehren sie in der lokalen Taverne ein. Sie sind nicht die einzigen, die es nicht mehr rechtzeitig schaffen, also gilt es, sich schnell eines der Zimmer zu sichern. Die Reaktion, als die Gäste Lindas Anwesenheit gewahr werden, ist wie immer – Gespräche verstummen, Köpfe drehen sich, Stühle werden gerückt, Hände suchen verstohlen den Griff von Waffen. Zum Glück kennt der Wirt sie, ein altersloser Elf mit dem Namen Miralar Goldatem, und kommt ihr freudig entgegen.
„Linda, meine Glockenkehle, wie schön, dich wieder hier zu haben.“ Auch die Stammgäste nicken ihr grüßend zu oder winken sogar freundlich, wodurch sich die meisten der reisenden Gäste auch wieder beruhigen. Aber eine gewisse Spannung bleibt immer zurück. Miralar beherrscht das Spiel der Atmosphärenreinigung aber perfekt, und so plappert er unbeirrt weiter. „Und du hast Freunde mitgebracht. Kommt, setzt euch, an der Bar sollte noch genug Platz sein. Wie geht es deinen Eltern? Ist dein alter Herr diesmal gar nicht dabei? Ach, was rede ich. Du bist ja wohl wirklich schon alt genug, auch ohne ihn in die Stadt zu reisen. Was treibt dich diesmal her? Hast du nicht schon genug Bücher?“
Die herzliche Art des Wirtes zaubert ihr ein Lächeln auf das Gesicht. „Sei gegrüßt Miralar, oh Meister des Herdfriedens, es ist auch mir eine Freude, endlich wieder in dein warmes Haus einzukehren zu dürfen. Sind wir schon zu spät für eine deiner heimeligen Schlafkammern?“
Ein vertraulicher Unterton schleicht sich in des Elfen Stimme. „Ich würde mein eigenes Zimmer zur Verfügung stellen, um dir Unterkunft zu gewähren, das weißt du.“
„Und ebenso weiß ich, wie mein Vater auf dieses Angebot zu reagieren pflegt.“
Linda begleitet ihre Aussage mit einem mahnenden Zeigefinger, aber Miralar grinst nur spöttisch. „Nun, er ist nicht hier, um mich mit seinen Blicken zu töten. Warum also sollte ich mich fürchten?“
„Wer weiß, vielleicht hat er ja seine Spitzel hier, die ihm berichten, wie du dich ohne seine Anwesenheit zu betragen pflegst.“
„Ich bezweifle, dass er genug Gold übrig hat, um solcherlei Dienste in Anspruch zu nehmen. Wohl aber interessierte junge Leute, die sich bei ihrem potentiellen Schwiegervater gut stellen wollen. Da kann ich alter Mann wohl schlecht mithalten.“

Nun war es an Hrodger, sich stöhnend einzuschalten. „Gebt mir zu trinken und zu essen, damit ich es wieder hochwürgen kann. Euer Gesülze ist ja unerträglich.“
Der Wirt quittierte dies lediglich mit einem erhlichen Lachen. „Sehr Wohl, mein Herr. Drei Mahlzeiten und drei Getränke. Kommt sofort.“ Er zwinkert Linda noch kurz zu, dann widmet er sich der Bestellung.
Hrodgers Aufmerksamkeit ist jedoch bei Mushina. Auf seine Aussage hin, hatte er eigentlich einen Seitenhieb von ihr erwartet, jedoch steht sie abwesend daneben und starrt die Bar hinab. Aufgrund seiner Größe, kann der Zwerg nicht sehen, was sie dort beobachtet, aber es ist eine kleine Gruppe versammelt, die angeregt miteinander diskutiert. Seine Ohren klingeln wieder, also strengt er eben diese an, um etwas von dem Gespräch aufzuschnappen.
Es geht um eine Wette. Der Einsatz ist nicht viel aber auch nicht wenig. Zehn Goldstücke wenn man etwas errät. Die gleiche Summe zu zahlen, wenn daneben getippt wird. Ein Altersnachweis. Ohne die fragliche Person gesehen zu haben, ist das unmöglich, also will Hrodger sich zu der Gruppe gesellen.
Mushina hält ihn mit sanftem Griff auf. „Ich mache das.“
Ihre Stimme ist ruhig, fast wehmütig, aber bestimmt. Ohne Wiederrede setzt sich der Zwerg wieder auf seinem Barhocker zurecht und blickt seiner Kameradin nach, als diese sich langsam einen Weg durch die Leute bahnt.
 

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Dungeons & Dragons 5 - Dunkle Feder - Teil 7.2 "21. Stunde"

Während des kurzen Wortwechsels sind zwei Gläser auf dem Tresen erschienen. Eines mit klarem und hellgoldenem Bier gefüllt, geziert von einer daumendicken, weichen Schaumkrone, das andere mit stark verdünntem Wein von zartrosa Farbe. Hrodger stutzt, als er das Getränk betrachtet, das offensichtlich für ihn bestimmt ist. Fragend blickt er erst zu Linda, die ihn aber nur seltsam anlächelt, dann zu dem Elfen, der ihm zunickt und mit der Hand eine knappe, einladende Geste vollführt.
Der Zwerg lässt seinen Atem langsam durch die Nase entweichen und hebt sein Glas dann der jungen Frau entgegen. „Auf eine interessante Reise, junge Bóthildr.“
Lindas Lächeln verliert ein wenig an Sicherheit. Mit dem Beinamen, den ihre Ziehltern ihr gegeben hatten, war sie noch nie angesprochen worden. Sie will Hrodger aber nicht zu lange warten lassen, also stößt sie mit ihm an und beide trinken einen Schluck.
Jeder Ansatz einer Frage wird aber unterdrückt, als ihr Trinkpartner ein genüssliches Seufzen hören lässt. „Ein Bier, wie ich es lange nicht mehr getrunken habe. Respekt, mein Herr, und meinen Dank.“
„Freunden und Beschützern meiner lieben Linda gebe ich gern von meinen Reserven. Vor allem möchte ich euch so über euren Gaumen auf das einstimmen, was eure Ohren heute noch vernehmen werden.“
Noch bevor Hrodger diese Anspielung hinterfragen kann, schaltet sich Linda ein. „Das ist gemein, Miralar. Vielleicht will ich heute gar nicht.“
„Linda Bóthildr Hartel, ihr beschähmt mich.“ Der angesprochene fasst sich in gespielter Trauer an die Brust. „Niemals würde ich euch gegen euren Willen zum Singen drängen. Wie kann ich nur annehmen, dass ihr diesen Schankraum mit eurem lieblichen Gesang füllen würdet, wo ihr euch doch stets so dagegen sträubt.“
Linda verschränkt ihrerseits die Arme vor der Brust und dreht sich empört vom Tresen weg. Dabei schiebt sie auch leicht ihre Unterlippe nach vorne und wirft die Haare in den Nacken. In diesem Moment sieht sie wieder aus wie das Kind, das sie noch ist. Bei den Gesprächen und ihrer aufgeklärten Art, vergisst es sich leicht, dass sie noch nicht einmal in heiratsfähigem Alter ist. Diese Aura des Erwachsenseins zerplatzt aber endgültig, als sie ihren Kopf wieder zu dem Wirt herumwirft und ihm die Zunge herausstreckt.

Dann nimmt Linda noch einen Schluck, greift sich ihre Laute und macht es sich auf dem Hocker bequem. Während sie an den Saiten zupft und diese nochmal nachstimmt, füllt sich der Schankraum zunehmend mit dem Geräusch rückender Stühle, da die Stammgäste wissen, was nun kommt und die anderen neugierig werden.
Das Mädchen wartet nicht darauf, dass alles ruhig ist, sondern beginnt mit einer leichten und fröhlichen Melodie, die sich unbeschwert in die Geräusche einfügt. In die Harmonie aus Tavernengeräuschen und Musik, mischt sich nach wenigen Atemzügen eine Stimme, die Hrodger so noch nicht gehört hat. Bisher waren ihre Lieder stets keck fröhlich oder beiläufig gesungen, doch das hier hat eine ganz andere Qualität. Einladend, verletzlich, selbstsicher, wehmütig, freudig und vorsichtig zugleich. Die Grenzen zwischen ihrem kindlichen Gemüt, ihrer inneren Reife und der Person, die sie einmal werden könnte, verschwimmen miteinander und breiten sich um sie aus.

Kommt her, ihr Leute – setzen wir uns zusammen,
erzähl’n wir einander – woher wir alle stammen.

Mein eigenes Erbe – das müsst ihr gesteh’n,
ist leicht an Hörnern – und Hufen zu seh’n.

Doch wurd’ ich von Leuten – wie euch aufgezogen,
nachdem ihre Wut – und Angst war verflogen.

Kinder sind wie ein – irdener Krug,
was in sie gefüllt – ist kein Schicksalsbetrug.

Wir sind wer wir sind – doch soll das nicht heißen,
dass wir uns nicht können – auch anders durchbeißen.

Wir alle hier haben – Kind, Mann oder Frau,
etwas zu verlieren – das weiß ich genau.


Während des Liedes, hatte sich Linda, auf den Fußrasten der Bar und des Hockers stehend, aufgerichtet. Nun spielte sie eine schnelle Brücke, stieg behende auf die Sitzfläche und stellte einen Fuß auf den Tresen. Zur Überraschung Hrodgers und vieler anderer, stimmten in der letzten Strophe alle Stammgäste und auch Miralar mit ein.

Drum lasst uns gemeinsam – neue Strophen singen,
damit wir von nun an – gemeinsam gewinnen.

Beginnend mit dem Wirten, erhebt nun immer eine andere Person die Stimme und gibt eine eigene Strophe zum Besten.

Goldatem heiße ich – doch welch ein Grauß,
wenn ich zu viel trinke – kommt Pesthauch heraus.


Manche ergänzen und unterbrechen einander gar, teils freundschaftlich, liebevoll oder auch gemein, aber stets mit guter Miene. Und immer wieder, wurden einige Strophen gemeinsam angestimmt, als wäre es ein altbekanntes Ritual.

Seit Jahren komm ich hierher – doch was muss ich seh’n,
plötzlich dürfen Ziegen – Böck' auf Hockern steh’n.


Linda lehnt sich dabei grinsend vor und meckert fröhlich, was breiten Beifall auslöst, obwohl einige beim Anblick ihrer spitzen Zähne erschrocken ausrufen.

Du hast ja nur Sorge – dass dich diese Gör’n,
auch noch in Zukunft – könnt’ beim Saufen stör’n.


Nachdem einige Stammgäste ihren Teil beigetragen haben, beginnen auch neue Leute mit einzustimmen und das Lied mit einem Teil ihrer eigenen Geschichte zu bereichern. Sollte jemand mal ins Stocken geraten oder gar zu betrunken sein zu reimen, helfen andere aus. Das Lied ist längst zum Selbstläufer geworden, setzt sich da und dort an Tischen fort und andere Musikanten übernehmen die Melodie mit ihren eigenen Instrumenten.
Linda klettert wieder herunter und setzt sich, denn gerade werden die Mahlzeiten gebracht. Auch Mushina kommt eben zurück und drückt Hrodger einen kleinen Beutel in die Hand, der sogleich in dessen Tasche verschwindet. „Magst du mir erzählen, was es damit auf sich hatte?“
„Derzeit nicht“, ist die knappe Antwort. Dann lächelt sie Linda an. „Du weißt mich immer wieder auf’s Neue zu überraschen, kleiner Teufelsbraten.“ Dabei macht sie eine ausholende Geste, die den gesamten Schankraum umfasst.
Die Antwort kommt schnell. „Dann pass auf, dass du dir nicht einmal die Zunge daran verbrennst.“
„Na da werde ich wohl lieber vorsorglich schon löschen.“ Sodann greift die Kriegerin nach dem Krug, den ihr Miralar eben hingestellt hat, und zieht herzhaft an. Als sie absetzt, blickt sie erstaunt auf den halbleeren Humpen, dann zum Wirt und zum Zwerg. Beide grinsen sie breit an und Hrodger prostet ihr fröhlich zu.
 
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