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Sci-Fi / Fantasy Fledermausland

sonic_hedgehog

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Sebastian Schätz, der nach Hannover gezogen ist um zu studieren, aber (was seine Eltern nicht wissen) die Bewerbungen nie abgeschickt hat, ist wahrlich nicht vom Glück gesegnet. Nicht nur wird er eines Nachts durch das Eindringen einer Fledermaus in sein Schlafzimmer aus dem Schlaf gerissen und klemmt sich auf der Jagd nach ihr die Hand im Rollladenkasten ein – er wird auch noch von Rettungssanitätern des Medizinischen Außendienstes (MAD) gerettet, die ihn als Antropomorph mittlerer Intelligenz bezeichnen. Und auch privat scheinen seine Versuche, mit Kim eine Beziehung zu beginnen, nur von bescheidenem Erfolg gekrönt zu sein. Teils liegt das an seiner Unzulänglichkeit, teils daran, dass Kim ihrem Exfreund nachtrauert – aber auch dass Sebastian in der Kinotoilette von einem depressiven Vampir angefallen wird und sich nur mithilfe eines Amuletts retten kann, das er nach dem Besuch des MAD in seiner Wohnung gefunden hat, ist nicht gerade förderlich bei Anbahnungsversuchen. Und es kommt nach schlimmer: Erst sucht ihn ein Oger auf, der hofft von ihm Lebenshilfe zu bekommen
S.95 schrieb:
Ich hab nämlich gehört, sie sind ein echt guter Zuhörer. Wenn man Probleme hat.
und dann findet er auch noch heraus, dass sich Domowoj, ein slawischer Hausgeist, bei ihm eingenistet hat.
S.109 schrieb:
“Sauberkeit“, hauchte er mit leicht osteuropäischem Akzent, „ist keine Hexerei!“
So hilfreich dessen Ordnungssinn beim Besuch der Eltern noch zu sein scheint, kann sich Sebastian aber des Eindruck nicht erwehren, dass ihm allmählich die Kontrolle entgleitet und in seinem Leben Dinge geschehen, die normalen Menschen nicht geschehen sollten. Und warum in aller Welt interessiert sich ausgerechnet die GEZ für diese Merkwürdigkeiten? Als dann auch noch Kim sich zuerst verfolgt fühlt und schließlich jeden Kontakt zu ihm abbricht, sein Hausgeist und ein paar Zwerge ihn entführen und er von einem Dämon gejagt wird, wird es Zeit, den Vorkommnissen auf den Grund zu gehen und Zusammenhänge aufzudecken…

Oliver Dierssen, Jahrgang 1980, ist Arzt an einer psychiatrischen Klinik und hat mit Fledermausland sein Erstlingswerkwerk vorgelegt. Mit diesm Roman war er im Frühjahr 2009 Finalist des Heyne-Wettbewerb "Schreiben Sie einen magischen Bestseller!" Sollte man den Roman mit wenigen Schlagwörtern beschreiben würde man wohl Popliteratur trifft Fantasy sagen, denn dabei ist die Geschichte ebenso kurzweilig wie die Sprache.

Letztere ist es, die einem den Begriff Popliteratur ins Gedächtnis ruft, kann man sie doch nur als Alltagssprache bezeichnen. Erleichtert wird deren Verwendung durch die Wahl der Ich-Perspektive, wodurch auch innere Monologe und ironische Seitenhiebe, von denen es eine Menge gibt, den Lesefluss nicht stören sondern das Vergnügen sogar noch erhöhen. Oft ertappt man sich dabei, dass man genau dasselbe in einer ähnlichen Situation schon gedacht hat – zum Beispiel als die ökologisch korrekt lebende, Rastalocken tragende Studentin den Protagonisten auf seiner Arbeitsstelle im Chinaladen auftaucht:
S.34 schrieb:
Das Mädchen wies anklagend auf den embryonalen Fleischbrocken, als hätte ich die Herkunft jedes ominösen Tieres hier zu kennen, als hätte ich das Tier mit der Flasche aufgezogen! Wie fair konnte wohl ein Huhn gehandelt sein, das ein Euro neunundvierzig kostete? Wenn es überhaupt ein Huhn war. Ich hatte es nicht geboren, ich hatte es nur umetikettiert.
Nicht nur die Sprache ist es, überhaupt spiegelt der ganze Roman das Lebensgefühl der Generation wieder, die im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhundert in den Twens war (vielleicht auch einiger mehr) und die zwischen verschiedenen Lebensentwürfen gefangen scheint – das Lebensgefühl der sogenannten Generation Praktikum eben. Dabei sollte diese Definition nicht abschrecken, sie soll wenig mehr sagen als dass sich der Roman echt anfühlt. Sebastian Schätz ist weder ein absoluter Loser noch der sich entwickelnde Überflieger, er ist einfach nur Anfang zwanzig und könnte auch nebenan wohnen. Und Hannover ist keine Gothic-Vampirstadt, sondern Hannover, nur eben mit einer weiteren Schicht…

Die Geschichte wiederum ist, obwohl ohne Zweifel Fantasy, nicht in die Reihe der Elfen, Zwerge, fremde Länder Romane zu stellen, sondern in die Kategorie der Romane, die den Einbruch phantastischer Kreaturen und Ereignisse in den Alltag thematisieren. Oder anders gesagt, nimm das Phantastische als real an – die Zombies, die nachts noch vor der Trinkstube hängen, sehen nicht nur so aus, sie sind tatsächlich welche und ja, es sind tatsächlich Zwerge, die die Filme im Kino wechseln, wer hätte in diesen Kabuffen sonst Platz… Subtrahiert man Zombies, Vampire, Dämonen etc. aus der Geschichte, verbleibt eine nette kleine Liebesgeschichte nach der Strickart Jung trifft Mädchen, Mädchen lässt ihn aufgrund unbekannter Umstände sitzen, Junge versucht herauszufinden warum und rettet nach Überwindung diverser Hindernisse Mädchen und Liebe. Das wiederum bedeutet, dass weniger der Plot als vielmehr das Drumherum das Buch interessant macht. Und dieses Drumherum wird durch drei Eigenschaften geprägt:
1. Es ist überspitzt: Nichts in diesem Roman ist normal und was es zu sein scheint. Es gibt immer mindestens eine weitere Ebene und meistens ist diese völlig abseitig.
2. Es ist ironisch und komisch: Die gesamte Geschichte trägt einen humorvollen Unterton. Egal wie ernst oder verzweifelt die Lage ist, es ist immer Zeit für einen Seitenhieb und etwas Selbstironie.
“Schätz“, schienen seine Augen hinter den Sonnenbrillengläsern zu sagen, „du machst ein bisschen viel Wind um die Sache. Müsstest Dich mal sehen, Alter, deine Hose sieht echt scheiße aus, voll in der Pfütze drin. Reiß dich zusammen, krieg deinen Arsch hoch, und tret den ganzen Wichsern in die Eier. […]“
3. Es ist spannend: Durch die Ich-Perspektive bedingt weiß der Leser zu keinem Zeitpunkt mehr als der Protagonist, für ihn sind die Ereignisse lange Zeit genauso unverständlich. Und so blättert man Seite um Seite um, um dem Geheimnis, das alles umgibt, Schritt für Schritt auf die Spur zu kommen.
Eine Basis der Geschichte ist aber Humor, und der ist nun einmal Geschmackssache. Umso dankbarer darf man dem Heyne Verlag sein, der es jedem Interessierten ermöglicht sich einen Eindruck davon zu verschaffen, ob man selbst den Humor des Autors teilt – in einer Leseprobe steht auf der Verlagshomepage das erste Kapitel zum Download bereit.

Mein Fazit jedenfalls ist klar:
Oliver Diersson ist mit Fledermausland ein beeindruckendes Debüt gelungen. Auf jeder Seite spürt man den frischen Wind im Fantasy-Blätterwald und es macht Spaß, sich durch die 448 Seiten zu lesen. Humorvollen Fantasyfans aber auch all jenen, die beim Lesen gern schmunzeln, Fantasy normal aber nicht mögen, sei ein Blick wärmstens empfohlen.

Wir bedanken uns beim Wilhelm Heyne Verlag, der uns diese Rezension ermöglichte.
 
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