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Sci-Fi / Fantasy Das Königreich der Lüfte

sonic_hedgehog

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Der Begriff Steampunk bezeichnet ein Untergebiet der Science Fiction, in dem Dampfmaschinen eine wesentlich größere Bedeutung erlangt haben als in der Realität – fast sämtliche heute denkbare Technik ist auf Basis einer Energiegewinnung aus Dampf umgesetzt worden. Mischt man dieses Szenario noch mit einer kräftigen Prise Fantasy, also beispielsweise Magie, so erhält man ein Szenario, das auch in Rollenspielen Verbreitung hat und vor allem, denn das ist hier von Bedeutung, auch die Grundlage der Welt ist, in dem Stephen Hunt seinen Roman ansiedelt.

Molly Templar ist Waise und lebt in einem Armenhaus in der sehr an Dickens erinnernden Stadt Middlesteel. Dort wird sie schon seit ihrer Kindheit regelmäßig an verschiedenste Arbeitgeber ausgeliehen – Arbeiten die sie in derselben Regelmäßigkeit wieder verliert. Als ihre letzte Anstellung in einer Färberei gekündigt wird, erwartet sie jedoch anstatt des üblichen Ärgers eine neue Arbeitgeberin – die Vorsteherin eines örtlichen Freudenhauses. Aber auch diese Stelle steht unter keinem guten Stern, ihr erster Kunde entpuppt sich als Meuchelmörder, der offensichtlich auf sie angesetzt ist. Molly kann entkommen, flüchtet in den Untergrund Middlesteels und versucht gemeinsam mit Gefährten, die sie auf ihrer Flucht kennenlernt, zu ergründen, warum jemand eine Waise wie sie zu ermorden sucht. Gefährten wie zum Beispiel dem Dampfmann Schleichrad – einer Art Roboter, einer aus einem ganzen Volk von Robotern, deren Konstruktionsprinzip auf Dampf beruht deren Baupläne den anderen Völkern aber ebenso rätselhaft sind wie es auch die „Baupläne“ von Menschen sind.

Auch die andere Hauptperson des Romans, Oliver Brooks, ist Waise, lebt jedoch nicht in einem der Armenhäuser. Olivers Schicksal ist eine anderes – er überlebte als Kleinkind den Absturz eines Aerostaten, in dem seine Eltern den Tod fanden. Nach dem Absturz lebte er mehre Jahre im sogenannten Irrnebel (einer, wie sich im Lauf des Buchs enthüllt, Art Anderswelt) bis er als Kind zurückkehrte und seitdem im Haus seines Onkels aufgezogen wurde. Der Irrnebel ist eines der vielen magischen Phänomene der Romanwelt – eines dessen Kontakt Menschen transformiert und ihnen besondere Fähigkeiten verleiht. Fähigkeiten, die die Irrnebler zu Gefahren in den Augen der Herrschenden machen. Irrnebler, deren Fähigkeiten erkannt werden, können entweder der Sondergarde beitreten oder aber ihr Leben auf ewig in Gefangenschaft frönen. Doch auch in der Sondergarde sind sie als latente Bedrohung nicht frei, sondern müssen einen Bändigerring tragen, der es den Weltensängern, einer Art Magier, ermöglicht, sie zu vernichten so sie sich gegen das eigene Volk wenden. Oliver jedoch zeigt, obwohl er vier Jahre dem Nebel ausgesetzt war, keine offenkundigen Anzeichen von Mutationen – eine Tatsache die seine Kontrolleure immer misstrauischer werden lässt. Auch Oliver lernt der Leser in einer Umbruchphase kennen, denn auch sein Haus wird von Mördern überfallen, Mördern jedoch die nicht Oliver suchen, sondern einen Gast seines Onkels, den berüchtigten Harry Steve. Mit ihm flieht auch Oliver und auch er wird auf dieser Flucht sein Schicksal kennenlernen und erfahren, wie eng es mit Bestehen oder Untergang seiner Welt verwoben ist.

Diese beiden Waisen wirft Hunt in eine Welt widerstreitender Völker und Philosophien, von Zirklisten und Carlisten, von Dampfmännern, Cranarbiern und Menschen mit deren Schicksal alte Götter, Wesen jenseits des Irrnebels und Mitglieder einer Art Überwacher in Form des Wolkenrats spielen. Eine Welt die im Spannungsverhältnis zwischen hochentwickelter Dampftechnik und Magie gefangen ist. Diese Vielfältigkeit und Komplexität ist die größte Stärke des Romans – und leider auch seine große Schwäche.
Einerseits ist es schier unglaublich, welches Feuerwerk an neuen, aber auch altbekannten und in neuem Gewand auftretenden Ideen Hunt hier abbrennt. Hinter jeder Ecke der Welt wartet ein neues Geheimnis und immer wenn der Leser meint, er habe nun endlich die Hintergründe verstanden, verändert die nächste Erkenntnis alles.
So faszinierend und inspirierend das ist, erweckt es doch gelegentlich den Eindruck einer gewissen Schludrigkeit. Mitunter scheint es, dass die neuen Geheimnisse der Welt eine Art Deus ex Machina sind, da sie pünktlich dann aufgedeckt werden, wenn die Protagonisten vor Problemen stehen, die sie nach bisherigen Kenntnissen des Lesers nicht lösen könnten
S.479 f. schrieb:
[…] Ich könnte es mit einer Seelenwanderung versuchen.“
„Das kannst Du?“, fragte Oliver. „Ich dachte es sei gefährlich. Selbst meine Irrnebelaufspürer von der Behörde waren dazu nicht in der Lage und der alte Pullinger war ein Vier-Blüten-Weltensänger.“

Dass die Sprache des Romans nicht immer von höchster Qualität ist, ist eine Schwäche, die er mit vielen anderen des Genres teilt und muss daher nicht weiter ausgeführt werden. Viel mehr sollte man das Augenmerk auf die Momente legen, da Hunt eine bewundernswert eindrückliche Sprache an den Tag legt – was dann z.B. so klingen kann:
S619 f. schrieb:
Sie konnte den Schmerz der Erde spüren, als ob sich Tunnel und Städte Chimecas wie Narbengewebe über eine alte Wunde zogen; die mit Bannflüchen gravierten Kristalle, die ihre Städte mit Energie versorgten, waren Blutegel, die den Saft der Erde anzapften. Die unterirdischen Kraftlinien hatten sich in Adern enormer Macht verwandelt, und das Gestein und das Magma siedeten vor winzigem Leben – Erdenfluss, so viel wie das Gewicht der Welt – die Seele der Erde, atmend, seufzend, gequält von den groben Manipulationen, mit denen die alten Götter sich durch die Lücken in der Mauer der Realität woben.
Wunderbar eindringlich! In diesen Momenten merkt man, dass Hunt eine ganze Menge Potential hat, auch wenn es sich im vorliegenden Roman noch nicht voll entfaltet.

Ungeklärt bleibt, inwieweit dazu auch die Übersetzung beiträgt. So liefert Kirsten Borchard beispielsweise, als Molly nach langer Irrreise wieder in der Unterstadt ankommt, aus der sie geflohen war, als Übersetzung:
S. 499 schrieb:
Sie hatte einen kompletten Kreis geschlagen.
Auch ohne das Original zur Hand zu haben, vermute ich hier den englischen Satz „She had come a full circle“, was mit „Sie war wieder am Ausgangspunkt“ doch vertrauter klingen würde.

Unabhängig davon jedoch weiß Hunts Roman durchaus zu fesseln, die Actionszenen und das schon erwähnte Ideenfeuerwerk trösten über viele Schwächen hinweg. Einzig eines kann ich persönlich ihm nicht verzeihen: Vor lauter Begeisterung für seine Welt und die Details, die ihre Technik verständlich machen (so beschreibt einer der Charaktere auf fast drei Seiten das Funktionsprinzip der Pistolen) verpasst er es, uns seine Hauptcharaktere ähnlich nahe zu bringen. Auf 780 Seiten erfahren wir nur wenig mehr über Molly und Oliver als ich oben in der Zusammenfassung erwähnt habe. So wird effektiv verhindert, dass uns die beiden so ans Herz wachsen, dass wir wirklich mit ihnen bibbern würden – die Tatsache dass mit dem Erfüllen ihres Schicksals eine Entwicklung beider zu einer Art Übermenschen vollzieht, tut das übrige.

Somit bleibt am Ende der Lektüre leider ein zwiespältiger Eindruck – die Opulenz an Ideen bleibt merkwürdig blass vor den Charakteren und auch manche Schilderung überschreitet die Grenze zur Parodie realer Ideologien. Somit kann ich dieses Buch nicht wirklich empfehlen, rate jedoch dazu, Stephen Hunt im Auge zu behalten, denn ein stringent kürzendes Lektorat und etwas mehr Erfahrung könnten Hunt zu einem großen des Genres werden lassen.

Stephen Hunt wurde 1966 in Kanada geboren und lebt derzeit mit seiner Familie in London sowie seiner Wahlheimat Spanien. Entgegen der Angaben auf den Seiten des Verlags handelt es sich bei „Das Königreich der Lüfte“ vermutlich nicht um Hunts Debüt, da sich bereits 1994 ein einzelner Roman eines gleichnamigen Autors in ähnlicher Szenerie findet. Auf Englisch sind bereits zwei im selben Universum angesiedelte Romane erschienen – auf Deutsch wird im Oktober 2009 mit „Das Königreich jenseits der Wellen“ der zweite ebenfalls im Heyne Verlag erscheinen.

Mehr als nur einen Blick fängt übrigens das Cover von Franz Vohwinkel ein, das das Original um Längen schlägt und allein deshalb hier mal erwähnt werden sollte.

Mein Dank gilt dem Heyne-Verlag, der diese Rezension ermöglichte.
 
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