• RPG-Foren.com

    DIE Plattform für Fantasy & Sci-Fi Rollenspiele

    Ihr findet bei uns jede Menge Infos, Hintergründe zu diesen Themen! Dazu Forenrollenspiele, Tavernenspiele, eigene Regelwerke, Smalltalk und vieles mehr zu bekannten und weniger bekannten RPG-Systemen.

Sci-Fi / Fantasy Cyberabad

sonic_hedgehog

Geweiht
Beiträge
4.467
Punkte
133
Indien im Jahr 2047. Der ehemalige Vielvölkerstaat ist zerbrochen und steht balkanisiert am Rande eines Kriegs. Schuld daran sind unter anderem der seit über 3 Jahren ausgebliebene Monsun, ein illegal erbauter Staudamm am Ganges und beständige gegenseitige Provokationen. Aber auch innerhalb der Staaten brodelt es unter der Oberfläche, Armut und Verbrechen in den Slums, sich im Innersten feindliche Religionen unter Zustand ständiger Bedrohung schaffen ein Klima, in dem der richtige Funke ausreicht, einen Flächenbrand auszulösen. Internationale Abkommen, die die weitere Entwicklung hochstufiger KIs unterbinden sollen, werden durch sogenannte Sunderbans, illegale Datenschmieden unterlaufen und durch Spezialeinheiten der Polizei durchgesetzt. Gleichzeitig laufen in den Vereinigten Staaten geheime Forschungsmissionen zur Erforschung eines außerirdischen Artefakts, das in einem in der Umlaufbahn der Erde gefangenen Meteoriten gefunden wurde.

Neun Protagonisten und weitere Nebendarsteller wirft Ian McDonald in seinen Roman, den indischen Straßengangster Shiv, Mr. Nandha (einen Krishna Cop im Kampf gegen Kaihs), den Politiker Shaheen Badoor Khan, die Journalistin Najia, die Wissenschaftlerin Lisa, ihren ehemaligen Mentor Lull, das Neut Thal, einen Designer einer virtuellen Fernsehserie, den Stand-Up-Comedian Vishram und letztlich Mr. Nandhas Ehefrau Parvati. Alle erleben ihren Ausschnitt einer Entwicklung, die ihre Lebensläufe mehr oder weniger stark verwinden werden: Der sich entwickelnden Krieg, der Überlebenskampf der verbliebenen Kaihs der Stufe 3 und ihre persönlichen Probleme ergeben einen vielfältigen Roman, der unaufhörlich auf einen Höhepunkt zustrebt, der auch den Untergang der Menschheit bedeuten könnte.

Ian McDonald, geboren 1960 in Manchester ist einer der gefeierten SF-Autoren unserer Zeit. Seit seinem Debütroman wurden seine Werke regelmäßig mit diversen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem British Science FFiction Award für River of Gods, in der Übersetzung unter dem Namen Cyberabad erschienen. Dabei beeindruckte die Jurys wiederholt, mit welcher Komplexität und welchen Gedankenspielen McDonald seine Romane ausstattet.

So auch hier: Neun Protagonisten durch einen überwältigend reichen Hintergrund zu führen und dabei auch die Geschichte selbst nicht zu vergessen, das ist eine Herausforderung, die nur wenige Autoren auf sich nehmen. Eine Herausforderung, die zu meistern McDonald allerdings das nötige Rüstzeug hat.

McDonald entwirft in seinem Roman neun gleichwertige Protagonisten mit interessantem Hintergrund und nachvollziehbarer Motivation. Mr. Nandha sieht es als seine höchst Pflicht an, zum Schutz des Landes und der Bevölkerung jede Entwicklung wirklicher Computerintelligenz an der Wurzel zu bekämpfen und die Schuldigen zu bestrafen. Erfolgreich im Beruf vergisst er so, dass eine Beziehung mehr braucht als wirtschaftlichen Erfolg, was wiederum seine Frau zutiefst frustriert. Thal, das Neut, ist ein asexuelles Wesen. Durch eine Operation wurden alle Geschlechtsmerkmale ausgemerzt und gleichzeitig durch die Implantation neuer Drüsen und Nervenbahnen eine vollkommene Steuerung der Gefühle erreicht. Dennoch bleibt tief eine Sehnsucht nach Liebe zurück, die ys (das Adjektiv für Neuts) selbst durch beste Technik nicht selbst erfüllen kann. Shiv wiederum hat sich aus den Slums zu ansehnlichem, wenn auch kriminellem Erfolg hochgearbeitet, als er durch den technischen Fortschritt wieder zurückfällt und den erneuten Aufstieg erzwingen muss. Keiner der Protagonisten erweckt den Eindruck, nur deshalb zu handeln, damit der Autor seine Geschichte vorantreibt. Dabei wechselt der auch der Stil passend zu den Personen.

Und erst Indien – der bunte, teils erschreckende Subkontinent scheint fast lebendig. Ein ehemaliges Entwicklungsland, dessen Hochtechnologie zwar in alle Winkel reicht, aber nicht alle Menschen erreicht hat. McDonald schildert das Setting nicht nur als Erzähler, sondern lässt es den den Leser durch die Augen der Protagonisten erschließen. Viele große Konflikte, beispielsweise zwischen den Kasten, erleben wir Seite an Seite mit den Protagonisten. Somit ist der Roman in gewisser Weise auch ein Sittengemälde.

Nicht zu vergessen die Geschichte, die viele alte Themen der Science Fiction neu verarbeitet. Das Eintreffen eines außerirdischen Artefakts, das die US-amerikanische Paranoia weiter entfacht, das Entstehen von hochintelligenten KIs, die den Turing Test deshalb nicht bestehen würden, um sich nicht zu verraten und die hinter den Kulissen schon längst mehr Einfluss gewonnen haben, als alle je befürchtet haben. Dabei stellt der Roman auch die Frage, ob KIs wirkliche eine Bedrohung für die Menschheit sein müssen oder ob sich die Lebenswelten von von Menschen und Computerintelligenzen nicht so grundlegend unterscheiden, dass eine Koexistenz die logische Entwicklung wäre. Aber wie stehen die KIs im Zusammenhang zu dem außerirdischen Artefakt und woran erkennt man, ob eine Singularität bereits eingetreten ist oder kurz bevorsteht.

Spätestens hier stellt sich Euch vermutliche ein Frage: Ein Roman, der all dies bietet – müsste der nicht eine 100% Wertung und den goldenen RPG-Foren Award tragen? Vor allem wenn er dann auch noch, und das gilt es hier ausdrücklich zu erwähnen, durch Berhard Kempen eindrucksvoll übersetzt wurde. Er müsste, gäbe es nicht auch ein aber...

Jeder Baustein des Romans für sich betrachtet ist wunderbar gelungen. Allein: Zusammen sind sie zu viel des Guten. Die ständige Verwendung von Hindibegriffen, die nur teilweise im Glossar erklärt werden, die verwirrende Vielfalt de Welt, die sich der Leser Seite für Seite erarbeiten muss, die unglaublich langsame Entwicklung der Geschichte (100 Seiten umfassst allein die Vorstellung der Darsteller, die Geschichte selbst braucht fast 80% des Romans, bis sie wirklich in Gang kommt) sind zusammengenommen nur schwer zu bewältigen. Erst auf den letzten Seiten wird der Roman zum Pageturner, was aber nicht bedeutet, dass man am Ende weniger Konzentration bräuchte als zuvor. Bis dahin ist man eher damit beschäftigt, genau zu lesen, einzumerken und immer wieder zu blättern. Um das nicht falsch verstanden zu wissen: Ich schätze jeden Einzelaspekt des Romans: Tiefschürfende ScienceFiction, die alte Gedanken neu denkt ebenso wie Sittengemälde in der Tradition des großartigen Zola, die überbordend phantasievolle Sprache, die ich beispielsweise im Fall eines Ballard fast schon über den grünen Klee gelobt habe. Aber alles zusammengenommen ist hier leider etwas zu ambitioniert.

Cyberabad ist ein Roman den man sich erarbeiten muss. Am Ende stellt sich zugegeben eine Zufriedenheit ein, den Roman gelesen zu haben, da die in ihm steckenden Ideen und die Protagonisten diese Arbeit wirklich belohnen – aber man darf sich nicht darüber hinwegtäuschen lassen: Arbeit gehört dazu!

Ich danke dem Heyne Verlag für die Überlassung dieses Rezensionsexemplars und verweise für einen ersten Eindruck des Romans auf die Seiten des Verlags.
 
Zurück
Oben Unten