Tag 2: Von Beag Bean nach Loc Nar
Am folgenden Tag erwachte Idris bereits früh am Morgen. Unmittelbar nach dem Aufwachen wurde er sich der Tragweite der Aufgabe bewusst, die der Dorfälteste ihm gestern aufgetragen hatte. Mit mulmigem Gefühl im Magen weckte er den Barden, der es sich auf dem Boden gemütlich gemacht hatte. Da Menowin bereits am gestrigen Abend seine Bereitschaft kundgetan hatte, mit ihm auf die herausfordernde Reise zu gehen, entschied der Elf, Idris zum Dorfältesten zu begleiten.
Sie fanden ihn in der großen Halle, als sie den halbdunklen kühlen Raum betraten. Kelan war beim Frühstück und blickte von seiner Schüssel mit Brei auf. Als er Idris und den Elfen erblickte, stahl sich ein zahnloses Lächeln in sein Gesicht. Nachdem der junge Fährtensucher Kelan erklärt hatte, dass der elfische Barde ihn begleiten würde, übergab Kelan ihm den Schlüssel zum Rüstraum. In der folgenden halben Stunde durchforsten die beiden die zahlreichen Regale, Truhen und Fässer des kleinen Raums nach brauchbaren Habseligkeiten, die ihnen auf der Reise gute Dienste leisten würden. Decken, Seile, Beil, Klapspaten, Fackeln und Essbestecke waren nur ein Teil dessen, was sie mitnahmen. Auch rüsteten sie sich mit Waffen und Lederrüstungen aus. Nur einen kleinen kupfernen Kessel ließen sie zurück …
Dann war es soweit. Zu zweit trugen sie die Kiste mit den Geschenken für Seanagh zum Fluss, wo das Kanu bereits auf sie wartete. Kelan begleitete sie. Sie beluden das Boot mit ihren Habseligkeiten. Dann verabschiedeten sie sich voneinander. Hoffentlich nicht zum letzten Mal, dachte Idris ein wenig wehmütig, als er einen langen Blick auf die vertraute Umgebung warf. Dann kletterten sie in ihr Kanu und paddelten los. Hinaus auf den ruhigen, träge dahin fließenden Tra Bruach und in die weite Welt. Als Idris sich fünf Minuten später noch einmal umschaute, war das Dorf hinter einer Flussbiegung verschwunden.
Das Wetter war schön. Die Sonne schien vom blauen Himmel auf die beiden Flussreisenden hinab, Libellen surrten über die Wasseroberfläche und der Fluss trug sie gluckernd und freundlich durch die bewaldete Landschaft. Doch das mulmige Gefühl in Idris Magengegend hielt an. Ihre erste Bewährungsprobe würden sie in der heutigen Nacht ablegen müssen. Der Fluss ergoss sich nämlich in den Loc Nar. Und auf diesem See lebten die verhassten Locnars in ihren Pfahlbauhäusern inmitten des Gewässers. Idris und Menowin mussten den See in der Nacht unbemerkt überqueren. Der junge Fährtensucher wollte sich nicht einmal vorstellen, was die Locnars mit ihnen anstellen würden, wenn sie die beiden zu fassen bekämen.
Nach gut zwei Stunden wurden Idris Grübeleien von einer Bewegung am Ufer unterbrochen. Dort erhoben sich Gestrüpp und Dornbüsche zu beiden Seiten, die an manchen Stellen niedergetrampelt waren. Offensichtlich von Tieren, die zum Trinken an den Fluss kamen. An solch einer Stelle geschah es. Idris hatte das Ufer nicht für einen Moment aus den Augen gelassen, als er sah, wie sich ein massiges braunes Tier aus dem Unterholz schob.
Es war ein riesiger Holembär! Der Fluss war an dieser Stelle nicht besonders tief und mit einem Satz wäre das Untier wohl bereits im Wasser gewesen. Doch der Bär zog es vor, wieder im Gebüsch zu verschwinden. Entschlossen nahm der Fährtensucher Pfeil und Bogen zur Hand. Menowin, der hinten saß, steuerte das Kanu auf die andere Seite des Flusses. Gespannte Augenblicke verstrichen. Doch der Bär ließ sich nicht blicken. Sie entschieden, so schnell als möglich den Ort des Geschehens zu verlassen und zogen die Paddel durchs Wasser, bis ihre Arme schmerzten. Das latente Gefühl, verfolgt zu werden, hielt jedoch die gesamte Zeit über an.
Unvermittelt stimmte der sonst recht schweigsame Barde nach einigen Stunden ein Lied an, dessen beflügelnde Wirkung sich bis in die Arme von Idris auswirkte. Sie kamen gut vorwärts und das Flussufer zog zügig an ihnen vorbei. Solange, bis sie eine Windung des Flusses passierten und auf dem anschließenden Stück die Dudruch-Schwäne entdeckten. Anderthalbmal so groß wie gewöhnliche Schwäne und von einem vollkommen schwarzen Gefieder bedeckt, schwammen sie inmitten des Flusses, als würde er ihnen gehören. Zu allem Überfluss hatten die Schwäne, es waren drei ausgewachsene Exemplare, Nachwuchs dabei. Nichts lag den Gefährten ferner, als eine Auseinandersetzung mit den Tieren zu beginnen. Auch wenn Idris entschlossen war, das Paddel zu seiner Verteidigung einzusetzen, wenn es hart auf hart kommen würde.
Sie entschieden, den Schwänen soweit wie möglich auszuweichen und die Familie schnell hinter sich zu lassen. Mit eingezogenem Kopf passierten sie die Schwäne. Idris Herz schlug bis zum Hals, während er beobachtete, wie die beiden Weibchen sich mit dem Nachwuchs auf die sichere Seite des Flusses zurückzogen. Doch der männliche Schwan betrachtete die Situation offenbar als adäquates Mittel, seine Macht zu demonstrieren. Mit einem durchdringenden Fauchen breitete er sein imposantes Gefieder aus und stieß im nächsten Augenblick mit seinem Schnabel zu. Knirschend riss er ein Stück aus der Reling des Kanus, und rüttelte dessen Insassen durch. Dann waren sie hindurch. Der Schwan fauchte ihnen zwar hinterher, doch setzte er nicht zur Verfolgung an. Grenzenlose Erleichterung durchströmte den jungen Waldläufer.
Als sie sicher waren, den Schwänen entkommen zu sein, suchten sie eine seichte Stelle am Ufer und landeten an. Wohlweißlich nicht auf der Seite, auf der sie den Bär erblickt hatten. Dann begutachteten sie das Kanu. Das Boot hatte durchaus Schaden genommen, war aber noch fahrbereit. Sie kamen auf den Loc Nar zu sprechen und erörterten im Schatten einiger Bäume die Möglichkeiten, ungesehen den See zu überqueren. Bald einigten sie sich darauf, in der Abenddämmerung noch einmal anzulanden, das Kanu zu reparieren und mit einigen Bäumen und Ästen als Treibgut zu tarnen. Nach Einbruch der Nacht wollten sie es wagen, den See zu befahren. So bestiegen sie das Boot und fuhren weiter. In der Folgezeit hatte der Fluss zahlreiche Windungen und hier und da lugte Treibgut aus dem Wasser, so dass sie beschäftigt blieben. Langsam gewöhnte sich Idris an die Art und Weise der Fortbewegung und der Fluss hatte durchaus schöne Seiten.
Doch auf das, was den Fährtensucher hinter der nächsten Biegung erwartete, war er nicht vorbereitet. An einem flachen Uferstreifen saß eine Gestalt. Es war ein alter Mann mit einem grauen Haarkranz und einem freundlichen Gesicht, gekleidet in einer einfach gearbeiteten, grauen Robe und einer Angel in der Hand. Augenscheinlich lehnte er an einem kleinen braunen Hügel und nickte den Flusswanderern freundlich zu. Unsicher lächelte Idris zurück. Bis der Hügel die Augen öffnete und die Gefährten erkannten, dass es sich um den Bär handelte, der sie zuvor verfolgt hatte. Der Angler musste ein Magier sein. Und wie zur Bestätigung begann er in diesem Augenblick damit, vor sich hin zu brummeln und komplizierte Gesten in die Luft zu zeichnen. Unfähig zu einer Reaktion trieben der Fährtensucher und der Barde am Magier und seinem Bären vorbei, bis mit einem winzigen Blitz eine kleine graue Wolke über dem Haupt des Jungen erschien, die umgehend anfing, sich auszuregnen.
„Cedric, mein Name. Ich mache Euer Wetter, wenn Ihr es möchtet“, rief der Mann den beiden noch lachend hinterher, dann waren sie auch bereits hinter den nächsten Biegung verschwunden.
Als der Nachmittag bereits in die Abenddämmerung überging, entschieden sie, abermals zu rasten und das Kanu zu präparieren. Gemeinsam zogen sie das schwere Gefährt ans Ufer und begannen, eine Seite mit Farnen und Schilf zu tarnen. Idris, der noch zusätzliches Treibgut am Kanu befestigen wollte, wurde in einer seichten Stelle auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses fündig. Jedoch war das Gewässer hier tiefer, als ein Mann stehen konnte und keiner der beiden konnte schwimmen. Pragmatisch entschlossen sie sich, das Treibgut mittels eines Wurfhakens samt Seil zu „angeln“. Doch bei den Göttern, offenbar hatte sich das Glück gegen Idris verschworen, denn bereits nach dem zweiten Wurf verhakte sich der Haken irgendwo auf dem Grund des Flusses. Es war schließlich Menowin, der, nachdem er erkannt hatte, dass Idris nicht dazu zu bewegen war, im Fluss zu tauchen, den Haken aus dem Wasser holte. Und nicht nur den. Zusätzlich zog er einen alten Rucksack aus den braunen Fluten, in dem sich der Haken verheddert hatte. Eine kurze Untersuchung förderte einen Laumspurtrank und einen Trank des magischen Atems zu Tage. Die restlichen Objekte im Rucksack waren seit langer Zeit verrottet. Sie entschieden schließlich, auf das Treibholz zu verzichten und warteten, bis die Nacht ins Land gezogen war.
Als die ersten Rufe der Schleiereulen ertönten, brachen sie zur nächtlichen Seeüberquerung auf. Doch auch in der Nacht schienen sich die Götter gegen sie verschworen zu haben. Zumindest Herox. Der Gott der Winde und des Wetters hatte dafür gesorgt, dass der nächtliche Vollmond, wie ein heller Schild am sternenklaren und wolkenlosen Himmel stand. Zu spät ertappte Idris sich bei dem Gedanken, dass sie vielleicht die Dienste des Wettermagiers in Anspruch hätten nehmen können. Jetzt musste ihre Tarnung ausreichen. Als sie in den See fuhren, wandten sie sich nach links und fuhren so leise es ging, in Ufernähe entlang. Im Schein des Mondes sahen sie das Dorf der verhassten Pfahlbauer in der Ferne. Zahlreiche Herdfeuer brannten dort. Sorgsam achteten sie darauf, die getarnte Seite immer in Richtung des Dorfes zeigen zu lassen. Sie hatten die Siedlung in Entfernung einiger hundert Meter bereits passiert, als Menowin ein ans Ufer gezogenes Boot erkannte. Daneben lagen zwei Gestalten, die sich offenbar gerade einem Schäferstündchen hingaben. Das Stöhnen der beiden drang weit über den See. Zügig versuchten sie, die getarnte Seite des Bootes nun dem Ufer zuzuwenden und sie konnten von Glück reden, dass die beiden an Land so miteinander beschäftigt waren. Ansonsten hätten sie ein, auf einer Seite alles andere als sorgsam getarntes Kanu entdeckt. So waren Idris und Menowin bereits ein gutes Stück vorangekommen, bis einem der beiden an Land das Gefährt auffiel, es dann aber für ein Stück Treibholz hielt.
Sie ließen sich ein Stückchen treiben. Dann holten sie das Letzte aus ihren geschundenen Oberarmen heraus und paddelten in einem Teufelstempo über den See. Als sie erkannten, wie sich einige kleinere Boote aus dem Schatten des Pfahlbaudorfes lösten, verdoppelten sie noch einmal ihre Anstrengungen. Ausgelaugt und mit ihren Kräften am Ende, jedoch ungesehen, fuhren sie in den Fluss ein. Hier setzten sie ihre Reise durch die Nacht noch für eine Stunde fort, denn glücklicherweise war der Elf in der Lage, die Dunkelheit mit seinen Augen zu durchdringen. Im Abschluss zogen sie das Kanu auf die Uferböschung. Kurz noch tarnten sie das Gefährt und richteten ihr Lager. Dann waren sie auch bereits eingeschlafen. Das letzte, was sie hörten, war das leise Heulen eines einsamen Wolfes in der Ferne.