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Apfelstrudel

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Albero

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Ich schaue in den Wandspiegel über dem Waschbecken. Die Augen sehen müde aus. Sie haben viel gesehen, diese Augen. Auch solche Dinge, die man als Mensch eigentlich gar niemals sehen sollte. Ich greife nach dem Kamm im Regal. Eine zittrige Hand stößt ein kleines Flakon um. Zitternd richte ich es wieder auf und schiebe es beiseite. Mit dem Kamm gelingt es mir nur mühsam, mein wildes Haar zu bändigen. Ich dachte eigentlich, es müssten mehr sein. Es sollte eigentlich fülliger sein. Nach einer ganzen Weile lege ich den Kamm wieder an seinen Platz zurück. Ja, das ist ein guter Kerl. Die Frauen stehen auf dieses männlich-markante Gesicht. Besonders Margarete, die Melkerin aus dem Nachbarort damals in Schlesien. Es ist, als wäre es gestern gewesen, als ich mit ihr Hand in Hand durch die Felder lief. Ich drehe mich um und schleppenden Schrittes gehe ich zur Badezimmertür.

Diese Wohnung ist schon etwas seltsam. Die Wände sind nicht so hoch, wie in unserem alten Haus. Ein junger Mann war eifrig bemüht, mir zu versichern, dass das kein Krankenhaus sei. Der Wohnraum ist nicht besonders groß. Ein Bett, ein Kleiderschrank, ein Tisch, zwei Stühle. Auf einer kleinen Anrichte steht ein kleiner schwarzer Kasten. Die Bilder die ich darin sehen könnte, bewegen sich immer so schnell und die Menschen darin sprechen von Dingen, die ich nicht verstehe. Neben der Anrichte steht ein Schaukelstuhl. Das einzige Möbelstück, das mir bekannt vorkommt. Es ist noch der alte Stuhl, in dem bereits mein Opa immer im Herbst und im Winter am Kamin gesessen hat. Wir Enkel haben uns dann immer zu ihm an seine Füße auf das warme Schaffell gesetzt und während er seine Pfeife stopfte, begann er Märchen zu erzählen. Seine Geschichten waren immer so spannend, dass wir ihm stundenlang zuhören konnten. Mutter musste mindestens dreimal zu Tisch bitten, ehe wir uns von ihm losreißen konnten. Aber hier in diesem Raum gibt es keinen Kamin. Im ganzen Haus gibt es keinen Kamin. Nicht einmal einen Kachelofen.

Draußen vor dem Fenster stürmt es. Die Kastanien verlieren immer mehr ihrer gelb-braunen Blätter. Bald werden alle Bäume kahl sein. Ein Mann fegt das Laub auf dem Weg zusammen. Einige Personen gehen auf diesem Weg spazieren. Manche von ihnen schieben kleine Wagen vor sich her. Nein, so etwas habe ich nicht nötig. Ich bin noch rüstig und gut zu Fuß. Langsam trägt mich der müde Schritt zum Schaukelstuhl. Auf halben Weg halte ich kurz inne und hole Luft. Ich stütze mich an der Anrichte ab. Aus dem Fenster sehe ich wie ein Schwarm Schwalben auf den Flug nach Süden vorbereitet. Bei uns in Schlesien waren es immer Graugänse. Aber die gibt es hier wohl nicht.
Ich schleppe mich weiter zum Schaukelstuhl und setze mich. Bedächtig stoße ich mich mit den Füßen vom Boden ab und langsam kommt der Schaukelstuhl in Bewegung. Ich schaue zu der Wand. Bilder hängen daran. Von meiner Frau und mir. Wir hatten damals im Krieg geheiratet. Ich sehe noch ihren Vater vor mir stehen, wie ich ihn um die Hand seiner Tochter gebeten hatte. Und dabei musste doch alles so schnell gehen. Ich hatte nicht lange Fronturlaub. Darum war von mir auch bereits alles vorbereitet. Ich brauchte nur noch seinen Segen. Von einem Landser hatte ich mir eine saubere, neue Uniform für die Trauung ausgeborgt. Meine Feldwebel-Uniform war schon arg mitgenommen und der Pastor hätte mich wahrscheinlich in die tiefsten Abgründe der Hölle geschickt, wenn ich mit dieser Uniform dort bei ihm vorm Altar aufgetaucht wäre... Ich muss leise lachen. Es war nicht leicht damals.
Ein anderes Bild zeigt mich und meine Frau mit einem Kind auf dem Arm vor unserem Haus. Es war ein schönes Haus. Groß und mit einem schönen Garten. In jedem Herbst kletterten unsere Kinder in den Bäumen und pflückten das reife Obst. Meine Frau buk dann immer frische Apfelstrudel. Und was an Obst übrig blieb, wurde eingekocht für den Winter. Und dann sind da noch einige andere Bilder von Menschen, die ich nicht kenne. Jungs und Mädchen. Junge Männer und junge Frauen. Die Bilder sind farbig und nicht in Schwarz-Weiß so wie die anderen. Aber ich kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern, wer diese Menschen sind. Einige Jungen und Männer sehen aus, wie ich in meinen jungen Jahren aussah. Zumindest den Gesichtszügen nach, denn derartige Kleidung trug ich nie.

Es klopft stürmisch an die Tür. Noch ehe ich antworten kann hängt am Türgriff ein kleiner Junge. Wie alt mag er sein? Wer ist er? Er guckt zu mir mit seinen großen blauen Augen. Sie strahlen und er hat ein Lächeln im Gesicht, das bis zu den Ohren reicht. „Opa!“ ruft er und kommt auf mich zugelaufen. Er streckt mir seine Arme entgegen und krabbelt auf meinen Schoß. Mit seinen kleinen Armen fällt er mir um den Hals. Ich kenne ihn nicht, aber er scheint mich zu kennen.
Durch die noch geöffnete Tür kommt eine junge Frau. Sie hält einen Teller in der Hand. „Hallo Paps, “ sagt sie mit einem Lächeln. „Ich habe dir Apfelstrudel mitgebracht. So wie Mama ihn damals immer gemacht hat.“
 
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