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Sci-Fi / Fantasy Andrus Kivirähk - Der Mann, der mit Schlangen sprach (Klett-Cotta)

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„Es ist leer geworden im Wald. Man trifft kaum noch jemanden, abgesehen vom Ungeziefer natürlich. Das lässt sich offenbar von gar nichts beeindrucken, summt und schwirrt umher wie eh und je, zapft einem Blut ab oder sticht einfach so drauflos. Oder es krabbelt bloß gedankenlos auf deinen Füßen herum, wenn du ihm zufällig über den Weg läufst, trippelt da hin und her, bis du es abschüttelst oder plattschlägst. Ihre Welt ist noch ganz die alte – aber das bleibt nicht so. Auch den Insekten wird noch die Stunde schlagen! Ich werde das natürlich nicht mehr miterleben, niemand von uns. Aber eines Tages schlägt ihnen die Stunde, da bin ich mir ganz sicher.“


Leemet ist der letzte der Esten, der noch im Wald lebt. Der letzte, der noch in der alten Welt das alte Leben lebt. Der letzte, der noch die Sprache der Schlangen spricht. Die Sprache, die einst das bedeutendste Kulturgut der Esten war und Macht und Überleben garantierte.

Die Esten lebten in enger Freundschaft mit den Schlangen, speziell mit den Kreuzottern, deren Sprache sie beherrschten. Eine Sprache, die mehr als nur eine Lingua franca der estnischen Wälder war – sie gab jenen, die sie beherrschten auch große Macht über fast alle Tiere (mit der bemerkenswerten Ausnahme von Igeln und Insekten): Jagd war für die Esten unnötig, ein paar gezischelte Worte und der Elch neigte sein Haupt, um sich töten zu lassen. Ein paar andere Worte, und die Wölfe, die in enger Beziehung zu den Menschen lebten, ließen sich melken. Eine fast schon idyllisch zu nennende Welt – fast…

Denn nichts bleibt für die Ewigkeit.

Der lange Abwehrkampf gegen die Ritter des deutschen Ordens ist längst verloren. Trotz der einstigen Unterstützung durch den Nordlanddrachen, der über Jahrhunderte (?) die Sicherheit der estnischen Küsten garantierte, sind die Eisenmänner angelandet und haben neben Waffen auch Fortschritt, Kultur und Religion mitgebracht. Und die Anziehungskraft des Neuen ist groß – immer mehr der Waldbewohner ziehen in die Dörfer, geben ihr altes, naturverbundenes Leben zugunsten des Christentums und der ehrlichen Arbeit als Bauern auf.

In dieser Zeit des Umbruchs wächst Leemet im Wald auf und muss erleben, wie das alte Wissen verschwindet und mit ihm immer mehr der ehemaligen Nachbarn. Seine eigentlich beschützte Kindheit wandelt sich, als seine Neugier ihn erstmals in das Dorf am Waldrand zieht und er dort rätselhafte Dinge kennenlernt, die für sein Leben im Wald unnötig sind und gerade deshalb faszinieren. Seine Mutter, die nach dem Tod seines Vaters mit den Kindern wieder zurück in den Wald gegangen war, ist entsetzt von dem Gedanken, ihr Sohn könne die Fehler der Eltern wiederholen. Sein Onkel wiederum nutzt die offenkundige Neugier des jungen Leemet, um ihn in der alten Schlangensprache zu unterrichten. Dies und seine neue Freundschaft mit Ints, einer jungen Kreuzotter, bindet Leemet enger an den Wald – nicht aber seine Freunde…

Andrus Kivirähk, Geburtsjahrgang 1970, ist in seiner estnischen Heimat offenbar ein renommierter Literat, von dem ich allerdings bisher in Deutschland wenig bis nichts wusste (hier erschienen bisher einzig zwei Kinderbücher) In „Der Mann, der mit Schlangen sprach“ erzählt er die Lebensgeschichte von Leemet in einer Ich-Erzählung. Beginnend mit dessen Kindheit erlebt der Leser Leemets Leben bis kurz vor seinem Tod – ein Leben, das gleichsam die Geschichte eines Kulturkampfs ist und damit eine Art Allegorie für den Kampf der Natur gegen Entwicklung und Technik.

Es ist schwer dieses Buch ohne einen massiven Spoiler zu rezensieren. Als Fantasy-Leser kennt man einige der klassischen Abläufe im Genre. Fast immer startet der Protagonist in einer fast aussichtslosen Situation, überwindet alle Widerstände, erlangt altes Wissen und damit Macht und dreht letztlich das Schicksal. Und auf den ersten Blick scheint Leemet in dieses Schema zu passen – seine Welt steht vor dem Untergang, er erlernt mit der Sprache der Schlangen wahrlich altes Wissen und ja, mit dem Nordlanddrachen ist da auch eine alte Macht. Das verführt den Leser zu einer Erwartungshaltung – und spätestens nach der Hälfte des Buches beginnt man sich zu fragen, wo denn jetzt der Twist in der Geschichte bleibt. Ein Twist der, und dieser Spoiler ist notwendig, nie kommt. Leemets Welt ist zum Untergang verdammt und wir erleben einzig ihre letzten Zuckungen.

Mit diesem Wissen und der damit abgeschafften Erwartungshaltung (und damit dem Wegfall einer möglichen Enttäuschung) lässt sich ein anderer, freierer Blick auf die Geschichte werfen.

Kivirähk bedient sich stilistisch bei der klassischen Tragödie, verfremdet den klassischen Aufbau aber durch die Einbettung in die Ich-Erzählung von vornherein ironisch. Auch ist der Aufstieg eher verflacht und das retardierende Moment nicht wirklich von überzeugender Hoffnung erfüllt. Eher handelt es sich bei der Geschichte um eine Rutschbahn, die mal steiler mal flacher ins Verderben führt und maximal kleinere Hügel als Aufstiege bietet.

Sprachlich weiß mich das Buch weitgehend zu überzeugen – nicht übermäßig komplex geschrieben aber lebhaft und so bildlich, dass die Welt der estnischen Wälder und ihrer Umgebung in meinem Kopf zu Leben erweckt wurde. Die Figuren hingegen überzeugten mich weniger – außer Leemet, der als Ich-Erzähler und auch aufgrund seines Alterns während der Erzählung eine gewisse Entwicklung durchläuft, kann man das von den anderen Figuren nur bedingt behaupten – die meisten sind dann doch eher Typen. Auch die Geschichte changiert zwischen der fast schon klischeehaften Zauberwelt der Wälder und Schlangen und der überzeichneten Welt des christlichen Mittelalters – mit einer teilweise unfassbaren Brutalität, sowohl seitens der alten Esten als auch seitens ihrer Gegner, die von keiner Seite aber je kritisch hinterfragt wird. Eine Brutalität, die aber spannend geschrieben ist und insofern eine starke Faszination entfaltet. Auch die Geschwindigkeit, mit der die Geschichte vorangetrieben wird, changiert – mit teilweise beeindruckenden Längen, während derer einzig das faszinierende Konstrukt der Welt und die Lebhaftigkeit der Schilderungen den Leser bei der Stange hält und andererseits aktionreichen Sprüngen, die dann auch überraschende Fortschritte in der Entwicklung mit sich bringen. Dennoch überwiegen die beeindruckenden, fesselnden Teile bei weitem – ich hatte nie das Bedürfnis, das Buch beiseite zu legen und mich einer anderen Lektüre zuzuwenden.

Diese Faszination entfaltet auch die Geschichte: Leemets Geschichte ist anders – eben keine klassische Fantasy. Allein das Setting in einer alternativen Vergangenheit Estlands – eines Landes mit dem die meisten von uns kaum Berührung gehabt haben dürften. Diese Exotik trägt. Zu dieser Exotik gehört insbesondere die Schlangensprache – die eben keine klassische Magie ist (ein bisschen natürlich schon) und an das alte Testament erinnert. Adam, der den Tieren Namen gibt. Eva, die mit der Schlage spricht. Der Mensch, der sich die Erde untertan machen soll und dem damit auch Macht über die Tiere erwächst. Und schließlich ist der Teufel der Bibel ja zum Teil auch ein Bild der Götter anderer Völker.

Die Esten und ihre Schlangensprache sind quasi das Sinnbild der verklärten, mit der Natur in Einklang lebenden Naturvölker (typischerweise Elfen). Das aber ist in meinen Augen auch der große Schwachpunkt der Geschichte – ich konnte schlicht keine auch nur halbwegs überzeugende Erklärung der Ausgangslage finden – warum so viele der Esten sich dafür entschieden, von der Überlegenheit der Ritter des deutschen Ordens auszugehen um dann unter deren Herrschaft als Bauern im Schweiße ihres Angesichts als Bauern ein karges Auskommen zu haben anstatt frei und genussvoll im Wald zu leben? Zumal auch die Brot essenden Bauern sich letztlich nach dem sehnen, was es im Wald mithilfe der Schlangensprache zur Genüge gibt: Freiheit und Fleisch!

In der Summe ist „Der Mann, der mit Schlagen sprach“ in meinen Augen ein leider nicht völlig überzeugendes Buch. Dass es dennoch in seinem Herkunftsland gleich zwei Literaturpreise gewann (den Stalker Preis der estnischen Science Fiction Vereinigung und den nach Eduard Vilde benannten Literaturpreis) und (soweit mein französisch reicht) auch in Frankreich ein großer Erfolg war, ist dennoch vollkommen verständlich: Schließlich ist es ungewöhnlich, abseits vom Mainstream und spannend geschrieben - eine interessante Mischung aus Legende und einer Coming-of-Age Geschichte. Leider krankt es an dem etwas unglaubwürdigen Grundkonstrukt und der teilweisen Unausgegorenheit der Erzählführung.
Aber deshalb ist „Der Mann, der mit Schlangen sprach“ beileibe kein schlechter Roman. Wer über die geschilderten Schwächen hinwegsehen kann (und das ist nicht so schwer) und Interesse an ungewöhnlichen Stoffen hat, die eben nicht die Klischees des Genres bedienen – der sollte unbedingt einen Blick riskieren. Mein Dank gilt Klett-Cotta für die liebevolle Umsetzung und die Bereitstellung eine Rezensionsexemplars und ich verweise gerne auf die Seite des Verlags für eine Leseprobe und Informationen zum Autor

[33/40] - Handlung
[30/40] - Stil
[10/10] - Aufmachung
[7/10] - Preis/Leistungs-Verhältnis

80% - gesamt
 
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